In acht Schritten zum Superrekord
Kann der Mensch den Marathon unter 2 Stunden laufen? Dieses Wahnsinnsprojekt versucht es.

Der Mensch mag Grenzen, weil er sie verschieben kann. Im Extremfall führt das zu einem Weltrekord. Irgendwann aber sind alle Grenzen beziehungsweise Weltrekorde verschoben – glaubt der Mensch. Bis eine neue Generation an Athleten samt findigen Betreuern das Gegenteil beweist. Nike plant seit zweieinhalb Jahren, eine solche Barriere des Sports zu pulverisieren: einen Läufer über die Marathondistanz von 42,195 km unter 2 Stunden zu bringen. Bei 2:02:57 Stunden steht der Weltrekord seit zwei Jahren, aufgestellt vom Kenianer Dennis Kimetto in Berlin.
Nike müsste mit seinem Projekt namens «Breaking 2» also auf einen Schlag fast drei Minuten wegmachen, was knapp 2,5 Prozent entspricht und angesichts der Entwicklung des Weltrekords ein riesiger Sprung wäre. Er wird sonst in Schrittchen gesenkt. Die Kritiker des Projekts greifen Nike heftig an. Sie vermögen bloss einen lärmigen PR-Gag darin zu erkennen, der dem Sportartikelriesen zwar viel Aufmerksamkeit bringe, ansonsten aber nutzlos sei. Denn mit grosser Wahrscheinlichkeit wird die Zeit, die einer der drei auserwählten Läufer erreicht, nicht regelkonform und damit weltrekordtauglich sein.
Bilder – das Projekt Marathon-unter-zwei-Stunden:
Bei allem berechtigten Naserümpfen – natürlich ist dieses Projekt für Nike auch ein Beweis seiner Innovationskraft – steckt viel mehr als Marketing darin: die (ewige) Frage nach der Schaffenskraft des Menschen und wie er seine Träume zu verwirklichen versucht. Wer sich darum unbefangen mit diesem Laufabenteuer befasst, kann viel lernen. Hier die entscheidenden acht Facetten hin zur Grenzverschiebung.
Die Athleten: Drei Kleine aus Afrika
«White Men Can't Jump» heisst ein US-Basketball-Film, der fürs deutsche Kino mit «Weisse Jungs bringens nicht» übersetzt wurde. Die Überspitzung gilt auch fürs Marathonlaufen: Man muss schon aus Afrika kommen, will man zu den Besten zählen. Die 140 schnellsten Zeiten stellten allesamt Afrikaner auf. Dass Nike bei seinem Projekt darum auf drei von ihnen setzt, ist naheliegend.
Gegen 300 Läufer prüften die hausinternen Wissenschaftler in den vergangenen zweieinhalb Jahren auf Herz und Nieren. Gewählt haben sie: Olympiasieger Eliud Kipchoge (32), zurzeit der stärkste Marathonläufer mit einer Bestzeit von 2:03:03 Stunden. Er kommt aus Kenia. Halbmarathon-Weltrekordhalter Zersenay Tadese (58:23 Minuten) aus Eritrea. Dem 35-Jährigen gelang allerdings noch nie ein Weltklasselauf über 42,195 km. Lelisa Desisa, zweifacher Boston-Sieger mit einer Bestzeit von 2:04:45 Stunden — beim Debüt. Mit 27 Jahren ist der Äthiopier klar der Jüngste des Trios.
Was die drei ausser ihrer kontinentalen Herkunft verbindet: Sie sind klein, alle um 1,70 m und um die 54 kg leicht. Diese relative Kleinheit ist entscheidend: Kleine Marathonläufer profitieren von einer grösseren Hautfläche im Verhältnis zum Körpervolumen als grosse. Sie können die produzierte Hitze besser abgeben und als Folge länger schnell rennen. Hinzu kommt ein zweiter wichtiger Aspekt, in der Fachsprache «Laufökonomie» genannt. Er besagt, wie viel Energie ein Athlet für ein bestimmtes Lauftempo aufwenden muss — im Idealfall so wenig wie möglich.
Zersenay soll den besten Wert aufweisen, den man je gemessen hat. Darum ist er trotz seiner bescheidenen Bestzeit von 2:10 Stunden im Projekt. Desisa verfügt gemäss Nike über die besten Gesamtwerte aller Getesteten. Trotzdem besitzt Eliud Kipchoge die klar grössten Chancen, die Schallmauer von zwei Stunden zu durchbrechen. Keiner lief in den vergangenen Jahren so beständig schnell wie er. Beim einzigen Testlauf über die halbe Distanz war Kipchoge klar schneller als seine Kollegen. Desisa fiel gar ab.
Interessanterweise trainieren alle drei Athleten wie gewohnt und nach den Plänen ihrer Coachs. Nike begleitet sie dabei, was eines zeigt: Ohne alle anderen Facetten, die nun vorgestellt werden, wären die drei kaum schneller als bisher. Allein anhand ihrer körperlichen Fähigkeiten sind Kipchoge und Kollegen also nicht fähig, diese angepeilten 1:59:59 Stunden zu erreichen. Was also kommt hinzu?
Das Windschattenlaufen: 100 Sekunden im Dreieckstil
Was für Rennvelofahrer alltäglich ist, wenden Marathonläufer nur dürftig an: den Vorteil des Windschattens. Dabei zeigen Simulationen bezüglich Marathonlaufen: Den Weltrekord könnte man mit einer effizienten Windschattenstrategie von Anfang bis Ende um 100 Sekunden verbessern — zumindest in der Theorie. Nike plant, die drei Athleten über die 42,195 km mit Tempomachern zu versorgen. Damit diese stets frisch und schnell genug sind, werden sie im Verlauf des Rennens ausgewechselt. Die Massnahme führt dazu, dass die Zeit nicht als Rekord gewertet werden kann.
Beim bislang einzigen halböffentlichen Test, Nike lud eine handverlesene Zahl an Reportern ein, zeigte sich die Fragilität des Ansatzes: Die Tempomacher konnten das aufgezogene Dreieck, an dessen Ende die erhofften Rekordbrecher liefen, nicht immer aufrechterhalten. Wahrscheinlich ist darum, dass diese vom Windschatten stark profitieren, aber die anvisierten 100 Sekunden verpassen werden.
Die Schuhe: Leichter = schneller
Zu den Kernkompetenzen eines Laufschuhherstellers gehören natürlich Laufschuhe. Darum hat Nike für sein Projekt drei individuelle Massanfertigungen hergestellt. In der Theorie ist die Rechnung erneut simpel: Pro 100 Gramm weniger Gewicht an den Füssen können die drei Läufer im Marathon circa 1 Minute schneller sein. Also haben die Schuhbauer diese Unikate leichter gebaut (bei ähnlicher Stabilität) und zugleich mit einer neuartigen Mittelsohle versehen. Sie soll die aufgewendete Energie im Verhältnis zu anderen Laufschuhen um ein Vielfaches zurückgeben. Die Athleten könnten also mit jedem Schritt ein bisschen Kraft sparen, was gerade für die zweite Streckenhälfte entscheidend wäre, wenn die Beine müde werden.
Nach der Schuhpräsentation monierten Kritiker umgehend, diese Spezialmodelle seien nicht regelkonform. Nike widerspricht und bringt — ganz cleverer Verkäufer — im Sommer für den Durchschnittsläufer eine Standardvariante dieses Projektschuhs auf den Markt. Die drei Athleten haben ihre individuellen Modelle seit Monaten testen können. Sie sind bis auf den Belag der geplanten Laufunterlage abgestimmt.
Die Strecke: Auf dem Rundkurs von Monza
Auf allen Kontinenten haben sich die Projektverantwortlichen nach einer idealen Strecke umgesehen. Sie sollte so flach wie möglich sein, so wenige Kurven wie möglich aufweisen, über einen schnellen Belag verfügen, windgeschützt und nicht allzu hoch gelegen sein. Ausgewählt hat Nike die Formel-1-Strecke von Monza beziehungsweise eine 2,4-km-Schlaufe, die ihr angehängt und Nachwuchsfahrern vorbehalten ist. Monza nahe Mailand liegt 187 Meter über Meer.
Auch die Wetterdaten stimmen. Dazu mehr im nächsten Kapitel. Die drei Athleten testeten den Parcours erstmals vor drei Wochen. Dank ihm lassen sich im Idealfall ein paar Sekunden herausholen. Weil auch in Monza der Wind stark wehen kann, oder zumindest entscheidend stark, plant Nike mit einem groben Zeitraum für seinen Start: diesen Frühling. Mehr ist zurzeit nicht bekannt.
Das Wetter: Gewünscht sind 10 bis 12 Grad
Obschon Studien zeigen, dass die weltbesten Marathonläufer ihre Topzeiten bei 3,8 Grad erreichen, wünscht sich Nike bei seinem Lauf 10 bis 12 Grad. Die Gründe sind nicht bekannt, könnten aber mit der Herkunft der drei Läufer zusammenhängen: Sie sind alle relativ hohe Temperaturen gewohnt (und dürften bei Tests mit diesen 10 bis 12 Grad optimale Leistungen erreicht haben). In Monza soll im April oder Mai auch die Luftfeuchtigkeit tief und damit optimal für einen Angriff auf die 2-Stunden-Zeit sein. Zudem sei es oft bewölkt.
Die Ernährung: Viel Zucker via Töff
Der Rundparcours von Monza erlaubt es, die Athleten unkompliziert mit kohlehydrathaltigen Getränken zu versorgen. Nike will, dass die Athleten alle 2,4 km zur Flasche greifen, was ungewöhnlich viel ist. Normalerweise trinken die Besten maximal alle 5 km. Damit die Läufer während der Getränkeaufnahme keine Geschwindigkeit einbüssen, werden sie die Fläschchen von einem Betreuer erhalten, der auf einem Töff sitzt. Was er ihnen zuhält, ist individuell abgestimmt und geheim. Was man weiss: Keiner der drei Athleten brachte bislang die angepeilte Menge pro Stunde in seinen Körper. Kipchoge kommt der Vorgabe am nächsten, Desisa ist weit davon entfernt. Er trank in seiner Karriere lange primär Wasser und tut sich mit den gezuckerten Getränken schwer.
Das Tempo: So gleichmässig wie möglich
Im Prinzip sind Kipchoge und Kollegen unfähig, diese 1:59:59 Stunden zu erreichen. Obschon für normale Marathonläufer ultraschnell, sind sie prinzipiell zu langsam, damit sie mit ein bisschen Marge über die Halbmarathon-Distanz kommen und ausreichend Kraft für die zweite Hälfte besitzen. Dieses Defizit sollen primär das Windschattenlaufen und die leichteren Schuhe ausgleichen, zwingt das Trio aber dennoch dazu, so gleichmässig wie möglich zu laufen.
Die entscheidende Frage wird sein, ob die Ausnahmekönner damit ausreichend Energie für die zweiten 21,1 km konservieren können. Um stets über Tempo und Zeit informiert zu sein, wird vor den Rückenwindspendern und Athleten ein Auto mit Anzeige fahren und indirekt als Pacemaker dienen. Fahrzeug und Läufer werden jeden Kilometer in 2:50 Minuten abspulen, was horrenden 17 Sekunden pro 100 Meter entspricht.
Die Psyche: Das Unmögliche realisieren
Wenn Kipchoge, Tadese und Desisa starten, müssen sie überzeugt sein, dieses Tempo auch über 42,195 km durchstehen zu können — obschon sie eine solche Leistung noch nie annähernd geschafft haben. Im Alltag haben sie sich mit dieser Situation darum immer wieder beschäftigt und im Training beim Windschattenlaufen gelernt, dass sie dank der Hilfe von Nike dazu fähig sein könnten. Aus Skepsis ist in den vergangenen Wochen eine leise Zuversicht entstanden.
Eine grosse Ungewissheit aber bleibt, zumal Nike den Start je nach Wetter verschiebt. Normalerweise können die Athleten auf einen klar vorgegebenen Zeitraum fokussieren. Nun müssen sie auch mental so flexibel bleiben, dass sie sich zwar auf Zeitpunkt A vorbereiten, sogleich aber in einen Entspannungsmodus wechseln können, falls es doch zu Zeitpunkt B käme. Alles zusammen führt dazu, dass «Breaking 2» zum jetzigen Zeitpunkt wohl ein Traum bleibt — aber viele Fragen beantwortet, warum diese Mondlandung des Marathonlaufens irgendwann tatsächlich seine Verwirklichung finden dürfte.
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