In Brighton wird rebelliert und intrigiert
Auf dem Labour-Parteitag sind viele Mitglieder fassungslos über ihre Führung. Sie werfen Jeremy Corbyn vor, Kritiker mundtot zu machen.

Schon bevor sich die Labour-Delegierten in der Küstenstadt Brighton überhaupt versammelten, hatte die Partei erste Schlagzeilen gemacht: Auf einer Sitzung des Exekutivkomitees (NEC), ansonsten eine eher langweilige Angelegenheit, hatte es einen Mordanschlag gegeben.
So formulierte es zumindest Tom Watson, Vizeparteichef. Er hatte am Freitagabend in einem Restaurant in Manchester erfahren, dass Jon Landsman, Chef der linken Parteisektion Momentum, im NEC einen Antrag eingebracht hatte, den Posten des Vizes zu streichen. Der Antrag ging nicht sofort durch, die Abstimmung wurde auf den Samstag vertagt. Der Plan: Sollte sich das Exekutivkomitee für diese Statutenänderung entscheiden, wäre eine der ersten Amtshandlungen der Delegierten zum Auftakt des Parteitages, Watson um sein Amt zu bringen. Dieser gilt als Kritiker von Parteichef Jeremy Corbyn und hatte sich zuletzt, im Gegensatz zur Parteispitze, für ein Brexit-Referendum noch vor Neuwahlen ausgesprochen.
Watson bat darum, telefonisch an der zweiten Sitzung teilnehmen zu können; er schaffe es nicht auf die Schnelle von Manchester nach Brighton. Die Bitte wurde ihm verwehrt. In der BBC sprach der Labour-Mann daher am Samstagmorgen von einem «drive-by-shooting», einem Mordanschlag aus dem fahrenden Auto. Und fügte seiner Metapher über den Umgang mit der eigenen Person noch eine schneidende Analyse hinzu: Momentum habe eine «sektiererische Attacke» auf die Meinungsfreiheit in der Labour-Partei lanciert.
Der Parteichef «sitzt auf dem Zaun»
In der Nacht zum Samstag liefen die Drähte in der Partei heiss, die Empörung war gross, Ex-Parteichef Ed Miliband twitterte, jetzt sei Labour endgültig von allen guten Geistern verlassen: Zu Beginn eines Parteitages, der einen und heilen und die tiefen Gräben in der Partei überwinden sollte, quasi aus der Deckung und ohne Vorwarnung einen wichtigen Vertreter der Remain-Seite eliminieren? Ob Corbyn davon wisse, ob er Teil des Komplotts sei, wurde gerätselt, und ob jetzt Jon Landsman und Momentum endgültig die Partei übernommen hätten.
Die Jagd wurde dann kurzfristig abgeblasen; die Empörung in der Partei war zu gross. Corbyn intervenierte und wandelte die Abschaffung des Stellvertreterpostens in eine «vorläufige Beobachtung» um; die Sache wurde auf Eis gelegt. Nicht abgesagt.
Demonstranten forderten, dass sich Labour an die Spitze der Remain-Bewegung setzen soll.
Kaum war die grösste Empörung verstummt, kam die nächste Attacke, diesmal von der anderen Seite. Nicht von Corbyns Leuten gegen einen Kritiker, sondern von seinen Kritikern – gegen Jeremy Corbyn. Der Parteichef hat sich seit dem Brexit-Referendum 2016 nicht eindeutig auf eine Seite gestellt. Im vergangenen Jahr votierte der Parteitag nach langem Ringen dafür, dass sich Labour für ein zweites Referendum aussprechen wollte – als eines von zwei Mitteln, um den Brexit abzuwenden.
Corbyn plädierte für Neuwahlen, gegen ein Referendum. Ein Jahr später und vor dem Parteitag, auf dem Labour sich fit und bereit zeigen will für Wahlen und den Einzug in die Downing Street, beschloss Corbyn, das zu tun, was die Briten «auf dem Zaun sitzen» nennen. Er forderte, die Partei solle die Entscheidung, ob man für oder gegen den EU-Austritt ist, auf die Zeit nach den Wahlen vertagen.
Der kollektive Aufschrei blieb auch diesmal nicht aus. Bevor der Parteitag am Samstagnachmittag eröffnet wurde, zogen schon Demonstranten durch Brighton. Sie forderten eine zweite Volksabstimmung. Und, dass sich Labour an die Spitze der Remain-Bewegung setzen solle. An der Spitze des Demonstrationszuges marschierten drei Mitglieder des Schattenkabinetts von Corbyn, unter ihnen die designierte Aussenministerin Emily Thornberry und der designierte Brexit-Minister Keir Starmer. Dies war offene Rebellion.
Corbyn will Premier werden
Gegen Starmer, Abgeordneter des Londoner Wahlkreises Holborn und St. Pancras, läuft derzeit ein von Momentum-Anhängern initiiertes Abwahlverfahren. Er soll bei der nächsten Wahl durch einen Corbyn-freundlicheren Parlamentarier ersetzt werden. Ein Abwahlverfahren läuft auch gegen Harriet Harman, Abgeordnete für Peckam, die als Nachfolgerin des scheidenden Parlamentssprechers John Bercow kandidiert. Corbyn-Kritiker hatten sie als mögliche Premierministerin in einem Übergangskabinett ins Spiel gebracht für den Fall, dass Boris Johnson per Misstrauensvotum gestürzt werden sollte. Corbyn bestand darauf, dass er als Oppositionschef der natürliche Kandidat sei. Das Votum kam nicht zustande.
Verluste stehen bevor
Zu Beginn dieser Woche will sich der Parteitag vor allem mit Gesundheits- und Bildungsthemen befassen. Ein Antrag zur Abschaffung von Privatschulen wird diskutiert und der Plan, nach einem Wahlsieg Aktienpakete von Grossunternehmen an die dort beschäftigten Arbeitnehmer auszugeben. Der Brexit steht auch auf der Tagesordnung, obwohl er vorsichtshalber nicht extra ausgewiesen ist. Erwartet wird, dass es um die Position der Parteispitze erneut einen heftigen Streit geben wird.
Derweil plant die Partei schon für die Zeit nach Jeremy Corbyn. Der Parteichef ist 71 Jahre alt.In aktuellen Umfragen liegt Labour bei 22 Prozent und damit 15 Punkte hinter den Tories. Nur 31 Prozent der Befragten finden die Position von Labour in der Brexit-Frage klar. Die Tories liegen hier bei 76 Prozent. Die Sympathiewerte für Corbyn in der Bevölkerung sind desaströs, auch in der Partei halten ihn viele nicht für einen geeigneten Premierminister.
Labour dürfte bei den nächsten Wahlen Sitze an die Liberaldemokraten verlieren, die sich für ein Ende des Brexit-Prozesses aussprechen. Und an die Tories abgeben, die eindeutig für Leave sind. Brighton 2019 – es könnte der letzte Parteitag sein, auf dem Corbyn am Mittwoch die wichtige Abschlussrede hält.
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