«In der Paranoia bastelt man sich eine eigene Welt zusammen»
Warum sich traumatisierte Geflüchtete oft zu spät helfen lassen, erklärt Psychotherapeutin Fana Asefaw.

Habte A. soll gemäss Akten aus seiner psychiatrischen Behandlung an paranoider Schizophrenie leiden. Was könnte ihm durch den Kopf gegangen sein, bevor er am Montagmorgen mutmasslich einen achtjährigen Jungen und seine Mutter vor einen heranfahrenden ICE gestossen hat?
Wenn die Diagnose stimmt, könnte er sich in seinem paranoiden Zustand von den Passagieren am Bahnhof bedroht gefühlt haben. Die Betroffen können in einem akuten Zustand häufig Realität und Wahnvorstellung nicht mehr auseinanderhalten. Es kommt dann zur Verkennung oder Missinterpretation von Situationen. Dafür sprechen die Aussagen von Zeugen, die bei Habte A. einen «starren Blick» beobachtet hatten, bevor er wie «fremd gesteuert» auf die drei Passanten losgegangen ist.
Wie äussert sich diese Krankheit, welche Anzeichen gibt es dafür?
Das Denken, Fühlen und die Wahrnehmung der Betroffenen verändern sich total. Dadurch kommt es zu wirren Assoziationen. Betroffene basteln sich ihre eigene Welt zusammen, in der sie sich überall verfolgt fühlen. Dafür gibt es unterschiedliche Anzeichen: Jemand klagt längere Zeit, nicht schlafen zu können, zieht sich sozial zurück, verändert sich in seinem Gefühlszustand oder wird ohne ersichtlichen Grund aggressiv.
Sie beschreiben den Fall als bezeichnend. Wo sehen Sie bei Habte A. Parallelen zu den Fällen, die Sie als Traumatherapeutin im Umgang mit Geflüchteten sonst so erleben?
Ich beobachte diese Krankheit einzeln bei jungen Erwachsenen, die nach ihrer Ankunft in der Schweiz vorerst gut funktioniert haben. Diese bemühen sich anfänglich stark darum, sich in der Gesellschaft einzugliedern, sich einen Job suchen und Sprachkurse zu absolvieren. Dann stossen sie im Integrationsprozess auf lange Wartezeiten, müssen mehrere Monate ihren Asylentscheid abwarten, finden lange keine Wohnung, dürfen vorerst nicht arbeiten. Das führt oft zu Verunsicherung und Frustration. Die Geflüchteten denken, dass alles besser wird, wenn sie in der Schweiz ankommen. Doch dann geht es mit der Unsicherheit und den bekannten Ängsten weiter. Der Job-Coach von Habte A. hat in einem Interview ja auch geäussert, dass Habte A. müde wurde, weil er bei den VBZ lange nur provisorisch arbeiten konnte und Angst hatte, nie einen festen Arbeitsplatz zu erhalten.
Und wo sehen Sie Unterschiede?
Ich versuche meine Patienten nachhaltig zu betreuen und transkulturell anzubinden, das heisst sie bei ihren Krankheitsvorstellungen abzuholen. Eritreische Patienten, die paranoid sind, sagen mir oft, sie seien vom Teufel besessen. Viele von ihnen wissen gar nicht, dass es so etwas wie eine paranoide Erkrankung gibt. Zudem bleibe ich an den Fällen dran und hake bei involvierten Fachpersonen nach, ob die Patienten eine Tagesstruktur haben, und ob sie die verordneten Medikamente einnehmen. Für mich ist fraglich, ob Habte A. eine gute Nachsorge hatte, ob also jemand sichergestellt hat, dass er seine Medikamente regelmässig einnimmt. Dies wäre das Wichtigste, jedoch können wir es kaum alleine als Ärzte gewährleisten. Für mich handelt es sich um ein strukturelles Problem: Wie schaffen wir es, Patienten mit ganz anderen Vorstellungen von psychischen Krankheiten transkulturell von unseren Behandlungsmethoden zu überzeugen.
Ist es zulässig, die Tat bzw. die Erkrankung mit seinem Flüchtlingshintergrund in Verbindung zu bringen?
Das ist schwierig zu sagen, da ich seine individuelle Geschichte nicht kenne. Wenn er Gewalt und Folter erlebt hat, ist es jedoch gut möglich, dass ein unbehandeltes Trauma seine paranoide Entwicklung begünstigt haben könnte. Die entsprechende Fachliteratur geht von einem indirekten Zusammenhang aus.
Generell geht es hier aber primär um einen psychisch kranken Mann, der einen eritreischen Hintergrund hat. Die Tat hätte auch von einem Schweizer oder einem Deutschen mit derselben Krankheit verübt werden können. Dass rechte Parteien damit nun Politik betreiben, finde ich nicht zielführend. Diese rassistische, polarisierende Perspektive auf den Fall ist sehr gefährlich für unsere Gesellschaft.
Aus welchen Gründen kommen geflüchtete Eritreer zu Ihnen in die Sprechstunde?
In der Regel kommen sie auf Grund postmigratorischer Stressfaktoren: Sie fühlen sich in der Gesellschaft nicht angebunden – sie bemühen sich stark, sich zu integrieren, kommen jedoch nicht an. Es geht oft nicht, wie man meinen könnte, um Vergangenheitsbewältigung, sondern um die aktuelle Situation, an der sie leiden. Dadurch entwickeln sie Schlafstörungen, Angstzustände, Depressionen. Viele kommen auch zu mir, weil sie wissen, dass ich ihre Sprache spreche und ihre Kultur kenne.
Wie sie in einer früheren Stellungnahme gegenüber dieser Zeitung sagten, hätten insbesondere Eritreer betreffend psychiatrischer Erkrankungen eine negative Einstellung. So würden sie oft Medikamente nicht einnehmen oder nicht zur Therapie erscheinen. Woran liegt das?
Auch bei anderen Geflüchteten ist das festzustellen. Das liegt daran, dass in ihren Heimatländern eine Vorstellung von psychischen Krankheiten herrscht, wie bei uns vor hundert Jahren: man ist entweder total verrückt oder gesund. Zudem ist bei Eritreern die Vorstellung vorherrschend, psychisch Kranke seien von einem bösen Geist besessen. So wurden sie sozialisiert. Aber nicht jeder eritreische Patient, der sich vom Teufel besessen wähnt, ist automatisch paranoid. Es kann sich auch um ein Traumafolgestörung handeln.
Wie gehen Sie in ihrer therapeutischen Arbeit damit um?
Ich verfolge einen transkulturellen Ansatz. Wenn sie mir sagen, in ihnen stecke ein böser Geist, dann lasse ich das erstmal so stehen, sage ihnen aber, dass ich keine Möglichkeit habe, ihnen traditionell zu helfen, den Geist etwa auszupeitschen. Ich erkläre ihnen, dass es Alternativen gäbe und verschreibe ihnen beispielsweise Medikamente gegen die Symptome, an denen sie aktuell am meisten leiden, etwa Schlafstörungen, massive Ängste oder depressive Verstimmungen. So merken sie im Verlauf der Therapie, dass es ihnen besser geht, ohne dass ich ihre Hypothese in Frage stellen musste.
Welche Anzeichen gibt es dafür, dass Patienten mit paranoider Schizophrenie aggressiv werden könnten?
Ich hatte einen jungen Mann aus Eritrea, der dachte, er sei ein Ausserirdischer und lebe auf dem Mars. Die Mutter merkte, dass er sich verändert hat, aber er wollte keine Medikamente nehmen und sich nicht in die Klinik einweisen lassen. Da ich nicht garantieren konnte, dass in diesem Zustand von ihm keine Gefahr ausgeht, musste ich ihn in die Klinik einweisen. Ich beobachte aber auch oft, dass junge Eritreer eingewiesen werden, obwohl die Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind.
Eine Studie, die das BAG 2011 in Auftrag gab, hat hochgerechnet, dass in der Schweiz jährlich 176 Zwangseinweisungen pro 100'000 Einwohner durchgeführt werden, womit die Schweiz im europäischen Vergleich nach Finnland den zweiten Platz belegte. Dürfte diese Quote unter Eritreern in der Schweiz noch höher sein?
Ich kann das nicht genau sagen, habe aber den Eindruck, dass die Quote unter den Eritreern in Zürich höher liegen dürfte, da sie kulturell bedingt schnell einmal davon sprechen, vom Teufel besessen zu sein, oder junge Frauen sich in der Nacht plötzlich laut schreiend und verängstigt einschliessen, selbst wenn sie nicht paranoid sind. Dies wird von verschiedenen Fachpersonen aber oft falsch interpretiert, da sie die Sprache nicht sprechen und die Kultur nicht besonders gut kennen.
Oder allgemeiner: Sind psychische Erkrankungen bei Geflüchteten weiter verbreitet als in der Durchschnittsbevölkerung?
Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass die Anzahl der psychischen Erkrankungen bei Geflüchteten aufgrund sprachlicher Barrieren und Fluchttraumata höher liegen könnte als bei der Allgemeinbevölkerung. Denn die Nachsorge ist bei Ihnen erschwert. Auch mir gelingt es nicht immer, die Geflüchteten in der Nachsorge nachhaltig zu begleiten. Deshalb vernetze ich mich mit verschiedenen Organisation, die Kulturvermittler anbieten.
Ist das psychiatrische Angebot für Geflüchtete in der Schweiz nicht niederschwellig genug?
Es ist zumindest nicht optimal auf die Bedürfnisse der Geflüchteten angepasst. Man müsste sie erst einmal in ihrer Muttersprache über psychische Krankheiten aufklären. Denn in Eritrea können es sich die Menschen nicht leisten, sich als psychisch krank zu bezeichnen. Sie müssen jeden Tag funktionieren. Man muss also transkulturell mit ihnen arbeiten, dafür braucht es jedoch mehr Kulturvermittler und Dolmetscher. Die Eritreer wissen oft nicht, was sie unterschreiben, oder kennen die Haupt- und Nebenwirkungen der Medikamente nicht.
Apropos Nebenwirkungen: Schizophrenie wird oft mit psychotropen Substanzen behandelt. Diese vermindern als Nebenwirkung die Empathiefähigkeit der Patienten. Könnte das mit ein Grund für die Tat in Frankfurt gewesen sein?
Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich habe eher den Eindruck, dass Habte A. gar keine Medikamente genommen hat. Ich glaube eher, dass er sich während der Tat in einer akuten paranoiden Situation befand.
Christoph Mörgeli von der SVP twitterte nach der Tat: «Eritreer sind keine Flüchtlinge!» Sie sind selbst Eritreerin. Wie schätzen Sie die Lage in Ihrem Heimatland ein?
Die Situation ist noch immer schwierig, viele junge Eritreer haben keine Perspektive. Wenn sie hier ankommen, merken sie aber, dass ihnen auch hier die Perspektive fehlt – und genau das bringt sie im Verlauf in diesen psychischen Notzustand. Meine Patienten sagen mir oft, dass sie sich hier ein besseres Leben erhofft hatten. In Eritrea hatten sie aber einen viel stärkeren sozialen und emotionalen Zusammenhalt, da es eine kollektivistische Gesellschaft ist. Hier erleben sich die Eritreer als Ausgestossene, mit denen niemand was zu tun haben will.
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