In der Ukraine träumen sie von Veränderung
Viele Bewohner des osteuropäischen Landes sind kriegs- und korruptionsmüde. Sie hoffen, dass nach den Parlamentswahlen vom Sonntag eine neue Ära beginnt.

Wer im Nabereschni-Viertel die falsche Abzweigung nimmt, steht unversehens im Niemandsland. Eine Lehmstrasse mit wassergefüllten Schlaglöchern, Abfall am Strassenrand, scheinbar herrenlose Rohbauten und Baukräne am Horizont. Das Neubauviertel im Franko-Stadtteil ist sieben Kilometer und gleichzeitig Lichtjahre entfernt vom Charme der historischen Altstadt von Lemberg, der wichtigsten Stadt im Westen der Ukraine.
Wer die richtige Abzweigung nimmt, landet in der Iwan-Puljuja-Strasse 40. Dort wird die optische Wucht mehrerer zwölfgeschossiger Hochhäuser durch viel Glas, rote Klinkerelemente und einen über neun Stockwerke aufgemalten, traurig dreinschauenden Löwen auf der Stirnseite eines Hochhauses aufgebrochen. Dem Löwen gegenüber haben sich einige Dutzend Lemberger auf dem Kinderspielplatz versammelt, die hören wollen, was ihnen Roman Fedinjak zu sagen hat.

Fedinjak ist Parlamentskandidat der «Diener des Volkes», der Partei Wolodimir Selenskis. Der neue ukrainische Präsident will bei der Parlamentswahl am Sonntag seinen politischen Siegeszug fortsetzen und sich im Parlament mit seiner Partei eine Mehrheit sichern, die ihm bequemes Regieren ermöglicht. Eine Hälfte des Parlaments wird über Parteilisten mit prominenten Spitzenkandidaten besetzt, die andere Hälfte über Wahlkreiskandidaten wie Fedinjak: 23 Jahre jung, ehrgeizig, doch ohne politische Erfahrung – oder vielmehr: politischen Ballast – im Kiewer Parlament. Denn die meisten Ukrainer misstrauen ihrem Parlament angesichts politischen Stillstandes und etlicher korrumpierter Abgeordneter.
Die «Diener des Volkes» aber wollen, so sagen sie, alles anders machen. Fedinjak steht im rot-weiss gestreiften T-Shirt vor seinen Zuhörern und redet mit einem tragbaren Lautsprecher gegen die Abendbrise an. Fedinjak ist in Lemberg nicht unbekannt: Schon mit 17 führte er als Student im Winter 2013/14 den Protest gegen die Abkehr des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch von Europa mit an.
Infrastruktur vernachlässigt
Das Nabereschni-Viertel, so Fedinjak, ist typisch für das vergleichsweise wohlhabende Lemberg, das Ukrainer aus der ärmeren Provinz ebenso anzieht wie Zehntausende Flüchtlinge aus dem Krieg in der Ostukraine. «Lwiw boomt und baut», sagt Fedinjak mit der ukrainischen Bezeichnung für Lemberg. «Doch die Infrastruktur hält nicht Schritt – auch nicht hier im Nabereschni-Viertel, wo der Bauherr erst ohne die notwendigen Genehmigungen baute und die Baufirma später bankrottging. Jetzt haben die Leute niemanden mehr, an den sie sich wenden können.»
Und so gibt es hinter den Hochhäusern nur eine Lehmstrasse und eine Strasse, die teilweise so eng gebaut wurde, dass die neuen Stadtbusse nicht mehr hindurchpassen. «Jetzt müssen Tausende Menschen weit bis zur nächsten Haltestelle laufen – alle Beschwerden und Eingaben haben nichts bewirkt», sagt die Anwohnerin Tatjana Sopowa. Parlamentskandidat Fedinjak verspricht, im Stadtrat nachzuhaken.
«So wie hier ist es vielerorts», sagt er. Erst werde gebaut, dann folge die Infrastruktur. «Oder der Stadtrat beschliesst für Neubaugebiete zwar eine neue Strasse, Schule oder einen Kindergarten. Doch unsere Gerichte sind korrupt: Und plötzlich erlaubt ein Urteil dem Bauherrn, anstelle der Schule ein weiteres Hochhaus zu bauen.» Von fünf Neubauvierteln Lembergs seien vier mit solchen korrupten Elementen gebaut, sagt Fedinjak. Eine Diagnose, die so oder ähnlich wohl auch für den Rest der Ukraine gilt. Die «Diener des Volkes» würden im Parlament das Baurecht ändern, verspricht Fedinjak.
Die Jungen kommen
Tatjana Sopowa gefällt Fedinjaks Auftritt. Vor fünf Jahren ist die 57-jährige Ärztin mit ihrem Mann Michail vor dem Krieg aus ihrer Heimatstadt Luhansk nach Lemberg geflohen. «Erst wenn wir den Krieg beenden und die Korruption besiegen, wird es mit der Ukraine endlich aufwärtsgehen», sagt Michail. Bei der Präsidentschaftswahl haben die Sopowas nicht für Selenski gestimmt. Trotzdem hoffen sie auf einen «Wandel zum Besseren» und überlegen, seine Partei zu wählen. Dies wollen Umfragen zufolge 43 Prozent der Wähler tun. Die Zeitung «Serkalo Nedeli» sieht die Ukraine vor einem Generationswechsel: Über den Einzug entschieden nicht mehr über Jahre gesammeltes Wissen und Erfahrung im Parlament, sondern «Jugend, Courage und ob jemand politisch unbelastet ist».
Diese Kriterien treffen nicht nur auf Roman Fedinjak zu. Parteikollegin Katerina Schubka, 34 Jahre alte Parlamentskandidatin in einem benachbarten Wahlkreis, wuchs als Tochter eines Militärstaatsanwaltes auf. Und dennoch war Schubka geschockt, als sie nach ihrem Jurastudium die Realität ukrainischer Staatsanwaltschaften kennen lernte. «Im Studium hatte ich gelernt, dass Staatsanwälte die Gesetze einhalten und für Gerechtigkeit sorgen. In der Realität arbeiten die Staatsanwaltschaften wie zu sowjetischer Zeit: Staatsanwälte mischen sich ein, wo sie nichts verloren haben, sie werden gezielt gegen Einzelne eingesetzt, und es gilt das Prinzip von Quantität statt Qualität.» Monatelang spürte Schubka einem Fall massiver Unterschlagung im Staatsapparat nach – nur um zu erleben, dass Vorgesetzte die Strafanklage in ein Zivilverfahren umwandelten.
Nach neun Jahren als Staatsanwältin gab Schubka desillusioniert auf und wurde Anwältin. Als sie Selenskis Versprechen umfassenden Wandels hörte, war sie elektrisiert – und bewarb sich mit Erfolg als Kandidatin der «Diener des Volkes». Als Abgeordnete würde Schubka gern mit «für eine Justizreform sorgen, nach der es für Staatsanwälte endlich um Qualität geht und die Ukrainer Vertrauen in die Gerichte bekommen».
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