In die Klassenzimmer, marsch!
Präsident Jair Bolsonaro will Zucht und Ordnung in den Schulen Brasiliens. Mittel werden gekürzt und Lehrpläne umgeschrieben. Soldaten lassen die Schüler strammstehen.

Der Tag beginnt in Ceilândia mit Sirenengeheul, so grell und laut, als würden hier gleich Kampfflieger hinter den Wolkentürmen am Tropenhimmel hervorschiessen. Ein paar Kinder rennen los, aber nicht, um Deckung zu suchen. Sie wollen nur nicht zu spät kommen. Das wäre gegen die Regeln und damit ein Problem an der Schule Nummer 07.
Der Vorort Ceilândia liegt 26 Kilometer von der Hauptstadt Brasília entfernt. Es könnten allerdings auch 26'000 Kilometer sein, so viel trennt die beiden Städte. In den Fünfzigerjahren wurde Brasília aus dem Nichts heraus in die Wildnis gepflanzt. Eine neue Hauptstadt für ein Land, das die Kolonialherrschaft genauso abgeschüttelt hatte wie die letzte Diktatur. Plötzlich standen da futuristische Bauten, Prachtstrassen, Parks und Apartments für Politiker.
Die visionären Stadtplaner versäumten es aber, auch genügend Wohnungen für Arbeiter zu bauen, für Putzkräfte und Kassierer. So entstand Ceilândia, 400'000 Einwohner, Hochspannungsleitungen, Grillstände und Freikirchen. Wahrzeichen der Stadt ist ein Wasserturm – das sagt alles.
Wie Brasilien nie werden sollte
Wenn man so will, ist das hier das Brasilien, wie es nie werden sollte. Und dennoch ist ausgerechnet Ceilândia so etwas wie ein Testfeld für die Zukunft. Hier sollen die Bürger für ein abermals neues Brasilien geformt werden, diesmal allerdings nicht nach den Visionen von linken Politikern und kommunistischen Stadtplanern, sondern nach den Vorstellungen der ultrarechten Regierung von Jair Bolsonaro.

Seit etwas mehr als einem Jahr ist Bolsonaro an der Macht. In dieser Zeit hat die Regierung nicht nur das Waffenrecht gelockert und gegen Schwule und Minderheiten gehetzt, sondern sie hat auch massiv in das Bildungssystem eingegriffen. In öffentlichen Schulen sieht die Regierung einen Hort von Kommunisten und Marxisten. Das Erziehungsministerium wird von einem rechten Verschwörungstheoretiker und ehemaligen Finanzexperten geführt.
Mittel werden gekürzt und Lehrpläne umgeschrieben, gleichzeitig wird eine Schulform gefördert, die allgemein nur militarisierte Schule genannt wird, offiziell aber geteilte Verwaltung heisst: Ganz normale öffentliche Schulen geben einen Teil ihrer Kompetenzen an das Militär ab. Die Lehrer kümmern sich um das, was in den Klassenzimmern passiert, den Unterricht und den Lehrplan. Das Militär übernimmt den Rest.
Das Hemd gehört in die Hosen
Und so stehen in der Schule Nummer 07 von Ceilândia gleich hinter dem Eingang Militärpolizisten, Block und Stift in der Hand. Schüler strömen an ihnen vorbei, kichernde Mädchen, pickelige Jungs. Einzelne werden herausgegriffen. Wieso steckt dein Hemd nicht in der Hose? Warum sind Löcher in deiner Jeans? Name? Klasse? Eine Viertelstunde geht das so, dann sind die Schüler verschwunden, der Unterricht beginnt.
Cristiane Alves Araújo ist die Vizedirektorin der Schule Nummer 07. Wenn sie von ihrer Arbeit erzählt, spricht sie langsam und bedacht, als wäre das hier eine Unterrichtsstunde. 2500 Schüler lernen hier, sagt Araújo, in zwei Schichten, eine vormittags und eine nachmittags.
Zur Schule gehören noch 140 Lehrer und eben auch 20 Beamte der Militärpolizei. Was die hier machen? Araújo überlegt und spielt mit dem Kruzifix, das von einem Armband um ihr Handgelenk baumelt. Nun ja, sagt sie, da wären die Uniformen, das Marschieren, das Exerzieren. Das Wichtigste aber sei, dass die Militärpolizisten überhaupt da seien. «Wir fühlen uns heute sicher hier.»

Nur ein paar Kilometer von der Schule Nummer 07 entfernt liegt Sol Nascente, einer der grössten Slums Südamerikas. Drogen, Kriminalität, Ganggewalt: All das sei in der Vergangenheit immer wieder auch in die Schule Nummer 07 geschwappt, sagt Araújo. Selbst eine hohe Mauer mit Stacheldraht konnte daran nichts ändern. «Die Polizei musste jeden Tag kommen», sagt Araújo, «wegen Messerstechereien oder Diebstählen.» Jetzt kommt es nicht mehr so weit. «Seit das Militär hier ist, ist es viel ruhiger geworden», sagt Araújo.
Beginn der zweiten Stunde. In einer neunten Klasse steht eine Schülerin vor dem Pult der Lehrerin. «Achtung», ruft die Schülerin. «Aufgestanden!» Zwei Dutzend Jugendliche rucken hoch von ihren Stühlen. «Nehmt Haltung an. Frau Lehrerin, die neunte Klasse wartet auf ihr Kommando.» Präsentation nennt sich dieses Schauspiel. Eine Übung, die vom Militär eingeführt wurde und die jetzt vor jeder Stunde in jeder Klasse der Schule exerziert wird. «Wir unterrichten hier den Lehrplan», sagt Araújo. «Die Militärpolizisten bringen den Schülern dafür Disziplin bei.»
Demonstrative Lustlosigkeit
Die würden vermutlich gerne darauf verzichten. Die neunte Klasse jedenfalls macht nicht gerade begeistert mit bei der Präsentation. Augenrollen, demonstrative Lustlosigkeit. Bei den Eltern aber, sagt Araújo, komme der Drill gut an. Selbst viele Lehrer sind von dem Vorhaben überzeugt. «Statt uns mit Disziplin herumzuärgern, können wir uns als Pädagogen auf den Unterricht konzentrieren», sagt Araújo. Ist es aber nicht auch ein Verlust von Autorität, wenn Lehrer sich immer Hilfe holen müssen, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen? Araújo schüttelt den Kopf. «Es kann nicht die Aufgabe von einem Lehrer sein, einen Messerkampf zu trennen.»
Wieder Sirenengeheul. Grosse Pause. Lachende Kinder, dazwischen Militärpolizisten, Block und Stift in der Hand. Knutschen verboten. Rennen verboten. Und immer wieder: Hemd in die Hose! Bisher müssen die Schüler nur ein weisses T-Shirt und eine Jeans tragen. So soll der Übergang zur Uniformpflicht vom nächsten Schuljahr an leichterfallen. Die Jungen müssen ihre Haare kurz schneiden, die Mädchen dürfen sich nicht schminken.
Die Regierung sieht in den öffentlichen Schulen einen Hort von Kommunisten und Marxisten.
Wirlan, 13 Jahre alt und gerade noch mit dem Hemd aus der Hose, musste deswegen schon nachsitzen. Die Schule, sagt er, gefalle ihm trotzdem. «An meiner letzten Schule haben sie mich einmal überfallen, mir das Handy geklaut und meine Jacke. Hier fühle ich mich sicher.» Es klingelt wieder. Pause zu Ende. Wer trödelt, wird aufgeschrieben.
In einem Klassenzimmer sitzt George Rodrigues Ramos, 46 Jahre alt. Auf seinem T-Shirt: Charlie Brown und dessen Freunde aus den Peanuts-Comics. Ums Handgelenk kein Armband mit Kruzifix-Anhänger, sondern eine gelbe Plastikuhr mit einer Weltkugel statt eines Ziffernblatts. Ramos unterrichtet Geografie. Für die heutige Stunde hat er ein paar Texte über Umweltzerstörung und Fremdenfeindlichkeit kopiert. Die Abzüge habe er selbst bezahlen müssen, sagt Ramos: «Das Militär hat uns mehr Mittel versprochen, mehr Geld. Gesehen habe ich davon aber bisher nichts.»

Die Kinder, die bei ihm im Unterricht sitzen, kämen oft aus schwierigen Verhältnissen, sagt Ramos. «Sie leben in einer harten Welt. Hier, in der Schule, muss man sie doch umarmen, statt sie zu disziplinieren.» Und immer wieder berichteten Schüler von Militärpolizisten, die sie auf dem Pausenhof gefragt hätten, ob sie homosexuell seien und ob es bei ihnen nicht genug männliche Präsenz zu Hause gebe. «Soldaten und Militärpolizisten gehören nicht in eine Schule», sagt George Rodrigues Ramos. Deshalb will er im nächsten Schuljahr an eine andere Schule wechseln. «Ich halte das hier einfach nicht mehr aus.»
Ein letztes Mal schrillt die Sirene. Schulschluss, davor aber: Fahnenappell. In langen Reihen müssen sich die Schüler aufstellen. Stillgestanden! Augen geradeaus! Ein paar Minuten geht das so. Ein Schüler schreitet den Hof ab, wer nachlässig ist, muss Strafübungen machen. Gequälte Gesichter, dann endlich sind sie entlassen. Im Gleichschritt gehen sie zum Ausgang, raus aus dem Schultor. Dann endlich ziehen sie sich wieder ihre Hemden aus den Hosen.
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