Ist Balotelli verrückt oder einfach nur genial?
Der Stürmer Mario Balotelli besitzt Kultpotenzial, kann aber auch das ganze italienische Fussballvolk grauenhaft verärgern.
Man fragt sich: Ist er verrückt oder genial? Grenzenlos dumm oder listig? Er hört aufmerksam zu und nickt artig. Und macht eine Sekunde später das Gegenteil. So ungefähr funktioniert Balotelli in seinem Kosmos. Der Stürmer ist für alle Involvierten und Unbeteiligten bis zur Schmerzgrenze unberechenbar. Dem genialen Tor folgt der irre Tritt ans Schienbein des Gegners. Oft steht er dichter vor dem Platzverweis als vor dem nächsten erfolgreichen Abschluss. Chancen hat er bereits an allen Fronten vergeben.
Ein Solo kann jederzeit mit einer absolut dilettantischen Aktion enden - wie am letzten Sonntag gegen Spanien (1:1). Balotelli ist sich im Prinzip für keine Slapstick-Szene zu schade. Im letzten Sommer bewarb er sich in einem Test gegen Los Angeles zum Ärger seiner City-Mitspieler für eine Hollywood-Sportkomödie: Allein und ungestört drehte er sich um die eigene Achse – den Ball schob er dabei um Meter am Tor vorbei.
Im letzten April schrammte Roberto Mancini seinetwegen nach dem 0:1 gegen Arsenal knapp an einem Nervenzusammenbruch vorbei. Zum wiederholten Mal hatte Balotelli Rot gesehen. «Ich bin fertig mit ihm. Er ist ja kein schlechter Junge und sicher ein fantastischer Spieler. Aber er ist auf einem schlechten Weg. Er vergeudet seine Qualitäten. Mit ihm riskiere ich in jeder Partie einen Platzverweis. Er ist unbelehrbar!»
Der Sohn ghanaischer Immigranten, um den sich die Pflegefamilie Balotelli kümmerte, löst aber nicht nur bei seinen Coaches Adrenalinschübe aus. Er wird nicht nur beleidigt, der Sonderling teilt auch kräftig aus. Mit Gesten und provokanten Einlagen hat er schon manchen Gegenspieler zum Ausbruch getrieben. Im Cup vor zwei Jahren verfolgte ein ganzes Römer Rudel den Kasper von Inter – allen voran Francesco Totti. Der Captain der Roma trat Balotelli im Stile des Rächers regelrecht nieder. Das Opfer lächelte später in die Kamera von Rai.
Super oder einfach nur verrückt?
Egal in welcher Lebenslage: Beim 21-Jährigen ist zu jeder Tageszeit mit allem zu rechnen. Für ihn ist nicht nur der Rasen ein unendlich grosser Spielplatz, sondern auch das profane Leben. Der Afro-Italiener bedrohte auch schon ein paar Polizisten mit einer Spielzeugpistole - oder beendete eine seiner Romanzen per SMS-Botschaft. Überliefert ist zudem ein ausserplanmässiger Besuch in einem Frauengefängnis.
Für die einen Tifosi ist er Super-Mario und das erfrischende Gesicht einer neuen spektakulären Calcio-Generation, andere würden sich lieber heute als morgen eine Squadra ohne Mad Mario wünschen. Der Absolvent eines Wirtschafts-Gymnasiums mit dem Verhalten eines Sonderschülers spaltet nicht nur die italienische Nation. José Mourinho, einst Balotellis Teilzeiterziehungsberechtigter bei Inter, hat ihn schon nach dem ersten EM-Einsatz abgeschrieben: «Er hat Talent zum Verschwenden, aber charakterlich wird er sich nie mehr ändern.»
Prandellis Geduld
Gegen Spanien stoppte der Hochbegabte einen Ball im Stile Maradonas mit dem Absatz – die Zuschauer kreischten vor Begeisterung. Wenig später stürmte er in Richtung den spanischen Keeper Iker Casillas, verlangsamte plötzlich und liess sich auf törichte Art wieder vom Ball trennen – die Anhänger stöhnten. Die italienischen Journalisten verschonten ihn nicht. «Balotelli spielt wie ein Junior, der am Morgen aus der Diskothek kommt», spottete «La Repubblica» und forderte, ihn durch Antonio Di Natale zu ersetzen.
Cesare Prandelli dürfte sein Lieb- und Problemkind nicht bei erster Gelegenheit fallen lassen. Der Commissario tecnico behandelt seinen extravagantesten und zugleich sensibelsten Spieler speziell behutsam. Dass er nach seiner Auswechslung den schwer beleidigten Star mimte, nahm der Prandelli zur Kenntnis, aber kaum sonderlich ernst. Er weiss ungefähr, wie Paradiesvögel ticken – neben Balotelli muss er sich mit Antonio Cassano um einen zweiten Verhaltensauffälligen kümmern. Prandelli managt seine Nummer 9 bislang gut. Er wird ihm das Vertrauen noch nicht entziehen. Im Spiel gegen Kroatien ist auch deshalb nichts ausgeschlossen – die Palette reicht vom möglichen Skandal bis zum nächsten Szenenapplaus.
si
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