Ist die Literaturkritik ein «Klickgift»?
Zahlen belegen den Schwund der Rezension und ihre Ersetzung durch Interviews oder Homestorys.

Seit es die Literaturkritik gibt, gibt es auch ihre Krise. Dazu muss man nur die entsprechenden Aufsätze von Adorno über Boehlich und Enzensberger bis Jörg Drews nachlesen. Darin wird der Literaturkritik vor allem vorgehalten, sie sei der Komplexität ihres Gegenstandes nicht gewachsen. Dies unter anderem aus Zeitgründen: Freie Kritiker könnten es sich nicht leisten, die Lese- und Denktage mit einem Buch zu verbringen, die es verlange, und Redaktoren seien dafür zu sehr mit Redaktionsarbeit beschäftigt. Ergebnis: Niveauverlust. Schuld daran: die Ökonomie.
Die Zeitungskrise hat die Situation noch einmal verschärft. Leser und Anzeigenkunden bleiben weg, Umfänge schrumpfem. Wieder die Ökonomie. In der Folge werden Akzente neu gesetzt: weg von der Rezension, also der gründlichen Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk und der Bewertung desselben, hin zu affirmativen Formen wie Interview, Porträt, Homestory. Rezensionen, einst die Königsform des Feuilletons, gelten jetzt als «Klickgift». Dies natürlich in unterschiedlichem Masse, je nachdem, wie «kulturisch» ein Medium sich noch definiert.
Diese Entwicklung kann man messen. Thierry Chervel, Chefredaktor des Online-Kulturmagazins «Perlentaucher», das Buchbesprechungen in den führenden deutschsprachigen Tageszeitungen auswertet, stellte innerhalb von zwölf Jahren eine Halbierung der entsprechenden Texte fest: Konnte der «Perlentaucher» 2001 noch 4300 Rezensionen auswerten, waren es 2013 nur noch 2200.

Genauere und aktuellere Zahlen erhält man vom Innsbrucker Zeitungsarchiv zur deutsch- und fremdsprachigen Literatur (IZA), der grössten einschlägigen Sammelstelle. Das IZA wertet Buchbesprechungen in 25 Tages- und Wochenzeitungen aus. Bei FAZ und «Süddeutscher Zeitung» ist die Zahl der Buchbesprechungen zwischen 2003 und 2018 nahezu gleich geblieben, zwischen rund 500 und 600 pro Jahr. Zurückgegangen ist bei beiden Zeitungen die Zahl der separat gezählten langen Rezensionen (über 500 Wörter): von 533 auf 492 bei der FAZ, von 427 auf 393 bei der «Süddeutschen».
Eine Besonderheit weist die Schweizer Presse auf. In der NZZ ging die Zahl der Rezensionen (absolut) dramatisch zurück, von 647 auf 274: Hier schlägt sich der radikale Kurswechsel unter dem neuen Feuilletonchef René Scheu nieder, der den Kultur- in einen Essayteil verwandelt hat. Der «Tages-Anzeiger», der erst ab 2006 ausgewertet wird, weist eine auf niedrigem Niveau leicht gestiegene Rezensionszahl auf (von 193 auf 198), aber einen eklatanten Verlust an ausführlichen Texten: Statt 153 gab es 2018 nur noch 87 lange Buchbesprechungen.
Eine Hochrechnung auf das vom IZA noch nicht erfasste Jahr 2019 zeigt, dass sich der Abwärtstrend beschleunigt: 84 Buchbesprechungen insgesamt, davon 56 lange, also gut eine pro Woche. Daneben stehen allerdings auch knapp 80 Artikel unterschiedlicher Länge zu literarischen Themen, die sich anderer Formen bedienen: Interview, Porträt, Hintergrund, Messebericht. Auch bei anderen Tageszeitungen nehmen die nicht kritischen Formen zu, wie das IZA feststellt, aber nicht in ähnlich starkem Masse.
Der Beruf des freien Kritikers stirbt aus
Für den Beruf des Literaturkritikers bedeutet das nichts Gutes: Für freie Kritiker reicht die Auftragslage nicht zum Leben, und angestellte Literaturredaktoren werden immer stärker von Verwaltung und Technik beansprucht. Zu stark, um ihren Leseaufgaben noch in vertretbarem Masse nachkommen zu können. Was bedeutet das für ein Lesepublikum, das von «seiner Zeitung» Auswahl und Empfehlung, Zu- und Abraten erwartet? Ebenfalls nichts Gutes. Blogs und Leserkommentare, etwa bei Amazon, sind kein gleichwertiger Ersatz.
Auch den Autoren und Verlagen fehlt zunehmend ein kritisches Gegenüber. Nicht zuletzt deshalb, weil Journalisten, die lieber den Autor fragen, was er über sein Werk sagt, statt die Antwort im Werk selbst zu suchen, etwas Grundsätzliches von der Literatur nicht verstanden haben.
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