Jeder von uns ist eine Insel, jeder gefangen im eigenen Universum
Ein kleiner Verlag entdeckt einen grossen Autor neu: den Belgier Louis Boon (1912–1979) mit seinem Roman «Menuett».
Von Martin Ebel «Niemand ist eine Insel» heisst der Titel eines Simmel-Romans. «Jeder von uns ist eine Insel», lautet das Fazit von Louis Paul Boons Roman «Menuett», und vielleicht liegt in der kleinen, aber entscheidenden Differenz die ganze Dimension, die Trivial- von wirklicher Literatur trennt. Boons Fazit wird gezogen von einer namenlosen Frau, die als letzte das Wort erhält; zuvor waren der Mann und das Dienstmädchen an der Reihe. Die drei tanzen ein Menuett, ohne sich wirklich zu berühren, was in dem titelgebenden höfischen Tanz ja auch nur pro forma stattfindet. Sie bevölkern jeder ein eigenes Universum, das sie nur mit Sprache füllen können; sie sind die einzigen Insassen in einem Gefängnis, aus dem sie auch die Sprache nicht entlässt – nur zu uns, den Lesern, gelangen sie, aber das ist eine Metaebene, von der sie nichts wissen, nichts haben. Die Geschichte spielt in den 50er-Jahren, da ist sie auch entstanden. Aber was ist das überhaupt für eine Geschichte! Mann und Frau leben in der flämischen Provinz; er verbringt täglich acht Stunden Arbeitszeit in einem Eiskeller, wo er die Temperaturen der gelagerten Lebensmittel überprüfen muss; nach Feierabend sitzt er zu Hause und schneidet Zeitungsartikel aus; lauter Meldungen über scheussliche Verbrechen (sie laufen in einem fünfzeiligen Band oben über die Seiten des Buchs, wie die Horror-Börsenmeldungen im TV-Liveticker). Ein Klotz von einem Menschen, in sich verschlossen, vergrübelt; ein Eisklotz. Seine Frau ist dafür äusserst betriebsam; sie hält das Haus in Schuss, putzt und bohnert, hat einen Handel mit Kinderkleidern aufgezogen und plaudert gern mit den Nachbarn. Angepasst ist sie, folgt in allem den gesellschaftlichen Vorgaben; nur so glaubt sie sich sicher und aufgehoben. Aber es gelingt nicht; sie wird von ihrem Schwager bedrängt und schliesslich geschwängert, fühlt sich dadurch entwertet, zum «Tierischen» hinuntergezogen. Ihr Konformismus erweist sich als ebenso zwanghaft wie ihr Aktionismus, längst sind alle Gewissheiten brüchig: «Wir müssen weiter, als stolperten wir durch die Nacht, durch die Finsternis.» Der Ehemann und die 15-Jährige Verunsichert wird sie überdies durch das Dienstmädchen, fünfzehn erst und doch viel klarsichtiger als ihre Herrschaft. Sie hat die Unbedarftheit der Jugend, sich als Nabel der Welt zu empfinden, und die Instinktsicherheit eines Naturwesens; noch bevor die Frau es selbst recht weiss, hat sie sie und ihre Schwangerschaft durchschaut. Als das Kind zur Welt kommt, halten es der Mann und das Dienstmädchen gemeinsam im Arm; in der letzten Szene liegen beide in einem Sessel, einander liebkosend. Diese Szene bekommen wir dreifach, wie schon zuvor die wenigen Ereignisse jeweils von allen drei Personen im inneren Monolog wiedergegeben werden. Ein Verfahren, das Boon nicht gerade erfunden hat; kurz vor «Menuett» war Akira Kurosawas Film «Rashomon» herausgekommen, in dem ein Mord aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird, bis jegliche Aussicht, die Wahrheit zu erfahren, dahin ist. 1955, als «Menuett» erstmals erschien, waren literarische Experimente en vogue; im benachbarten Frankreich schrieb man «nouveaux romans» und absurde Theaterstücke. Boon, aus einfachsten Verhältnissen stammend, war bis dahin ein eher sozialkritischer Autor (sein Hauptwerk sind wohl die beiden Romane «Der Kapellekensweg» und «Sommer in Ter-Muren», insgesamt 1000 Seiten). Hier aber setzt er den Bohrer der Sprache an und gelangt in die Tiefe seiner Helden, weit hinaus über gesellschaftliche Bedingtheiten in existenzielle Abgründe. Die Pseudosicherheiten gesellschaftlichen Konformismus, welche die Ehefrau verliert, haben für Mann und Dienstmädchen ohnehin nie gegolten. Sie reagieren mit frechen Provokationen (das Mädchen) oder mit grüblerischem Zergliedern, bis nichts mehr übrig bleibt als stumpfes Dahinleben (der Mann). Drei Inseln, von denen einsame Rufe in die endlose Weite des Ozeans gehen. Louis Paul Boon hat sie zu einem sprachlich-musikalischen Menuett komponiert. Dies ist der dritte Versuch, das kleine, verstörende Meisterwerk deutschsprachigen Lesern nahezubringen. 1975 erschien es im Aufbau-Verlag in der DDR, kurz darauf bei Hanser im Westen, jeweils ohne bleibende Resonanz. Ein Kleinverlag hat sich jetzt des Belgiers angenommen, der sich vom Kommunisten zum Anarchisten entwickelte, zu den grossen Autoren niederländischer Sprache gehört und wie sein Freund und Kollege Hugo Claus auch bildender Künstler war. Weitere Werke sollen folgen. Louis Paul Boon Menuett. Aus dem Niederländischen von Barbara und Alfred Antkowiak. Nachwort von Carel ter Haar. Alexander-Verlag, Berlin 2011. 148 Seiten, ca. 24 Fr.
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