«Jetzt bahnt sich die Wut ihren Weg»
IWF-Chefin Christine Lagarde erklärt ihre Leidenschaft für die #MeToo-Debatte. Das Problem von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz sei unter den Teppich gekehrt worden.

Sie nehmen erstmals an der Münchner Sicherheitskonferenz teil. Warum eigentlich?
Sehen Sie sich die geopolitische Lage an. Staaten verhängen wirtschaftliche Sanktionen, um für Sicherheit zu sorgen. Oder schauen Sie auf die zunehmende Mobilität. Migrationsströme können die Stabilität von Staaten berühren. Wenn Menschen eine Zukunft suchen, einen Job, sich um ihre Kinder sorgen, kann es zu Konflikten aller Art kommen. Das sind alles wirtschaftlich relevante Probleme.
Es gibt Kritiker, die meinen, der Internationale Währungsfonds (IWF) habe sonst nichts mehr zu tun, jetzt, da das Wachstum weltweit anzieht.
(lacht) Die globale Wirtschaft wächst, ziemlich gut sogar mit 3,9 Prozent, sowohl dieses als auch nächstes Jahr. Aber eben nicht in jedem Land. Und in vielen Ländern wächst die Ungleichheit. Da müssen wir überlegen: Wie können wir eine gerechtere Verteilung des Wohlstandes fördern? Wie können wir den Einfluss von Technologien, Robotern und Automaten steuern, die menschliche Arbeitskraft ersetzen? Dieser Prozess wird zunehmen, und wir müssen den Leuten dabei helfen, sich anzupassen, mobiler zu werden, und einen Zugang zu besserer Bildung zu bekommen. Dabei müssen wir finanzpolitisch verantwortungsvoll handeln. Es gibt viel zu tun!
Das klingt, als rückten Sie den einst neoliberalen IWF nach links?
Ich denke nicht in dieser Differenzierung zwischen rechts und links und konservativ und liberal. Unser Mandat ist es, die finanzielle Stabilität weltweit zu gewährleisten. Die wird von Handel, Beschäftigung und Investitionen beeinflusst. Über die Jahre hat sich unsere Aufgabe weiter entwickelt. Warum blicken wir heute auf die Fintech-Branche? Nicht, weil wir nach links, rechts oder in die Mitte rücken. Sondern weil das die finanzielle Stabilität beeinflusst.
Sie setzen sich schon länger für Frauen ein. Sind Sie von der Wucht der #MeToo-Debatte überrascht?
Endlich haben wir diese Debatte, endlich! Ich denke, es ist ein massenhaftes Problem, das stets unter den Teppich gekehrt wurde. Jetzt bahnt sich die Wut ihren Weg. Diese Gefühle müssen jetzt in Aktionen umgewandelt werden.
An was denken Sie da konkret?
Wir dürfen nicht in dem Prozess stecken bleiben. Wir müssen alles auf den Tisch legen. Wie sprechen wir das Problem an, wie können wir es heilen? Wie können wir Menschen befähigen, es zu verarbeiten? Bisher reden vor allem Frauen, es überwiegt das stereotype Bild, dass Frauen Opfer sind und Männer Täter. Ich bin überzeugt, dass wir die Debatte in beide Richtungen führen müssen, von Männern zu Frauen und von Frauen zu Männern. Es wird keine leichte Reise, aber wir müssen sie gemeinsam gehen.
Wie wollen Sie Männer dazu überzeugen?
Es gibt Männer, die bereit sind an der Debatte teilzunehmen, wie den französischen Journalisten Raphaël Glucksmann. Wir wollen sie unterstützen. Es ist wichtig, dass sich Männer nicht an die Seite geschoben fühlen oder genervt sind. Und lassen Sie uns ehrlich sein: Es gibt sicherlich auch Männer, die sexuell belästigt wurden.
Ihr Amtsvorgänger musste wegen einer Sexaffäre gehen, zugleich ist der Fonds eine grosse multikulturelle Organisation. Kennt auch der IWF das Problem?
Jeder in der Organisation, vom Topmanagement bis zu den Mitarbeitern, sollte daran beteiligt sein, sexuelle Belästigung oder Mobbing am Arbeitsplatz anzusprechen. Wir beschäftigen Menschen aus mehr als 150 Ländern, da gibt es viele kulturelle Unterschiede. Was zum Beispiel für Europäer normal ist, muss es nicht für Asiaten sein. Oder andersherum. Wir haben festgestellt, dass wir alle verstehen müssen, dass es Unterschiede gibt. Deshalb stellen wir uns der Lage und überprüfen, wo erforderlich, wie wir zusammenarbeiten, damit wir als Institution noch besser werden können.
Wie weit sind Sie dabei schon gekommen?
Wir haben Ethikberater und Mediatoren, auch ganz traditionell den Ombudsmann. Parallel dazu gibt es sogenannte Peers for a Respectful Workplace. Das sind Leute in den verschiedenen Abteilungen des IWF, die freiwillig und absolut vertraulich Mitarbeitern zuhören und helfen, in Konflikten zu vermitteln. Ich denke auch, wenn wir mehr Frauen im oberen Management haben, wird es weniger dieser Vorkommnisse geben.
Zurück nach Europa: Die Europäer wollen künftig ohne IWF auskommen und einen eigenen Währungsfonds schaffen . . .
. . . warum nicht? Die Krise, durch die die Eurozone gegangen ist, hat gezeigt, dass sie einen Krisenmechanismus braucht, der unabhängig ist, schnell einsatzbereit und nach strikten Regeln arbeitet. Es ist zweitrangig, wie dieser Mechanismus genannt wird. Wenn man ihn Europäischen Währungsfonds nennen will, bitteschön.
Sorgen Sie sich nicht, dass die Eurozone den IWF nicht mehr braucht?
Wir dienen nicht einer Region, sondern 189 Ländern. Das schliesst auch Euroländer ein. Und wenn diese gemeinsam beschliessen, dass auch andere Krisenmechanismen wie der ESM eingebunden sind, ist das in Ordnung. Zuletzt haben einige in Europa die Zusammenarbeit mit dem IWF kritisiert. Das würde ich nicht sagen. Wir haben sehr gut zusammengearbeitet, in Irland, Portugal oder Zypern. In Griechenland war es schwieriger, aber dort ist alles schwieriger.
Sie geben schon lange kein Geld mehr an Athen. Ist das Land über den Berg?
Wir gehen davon aus, dass im August das laufende Programm beendet wird. Ich kann verstehen, dass die griechische Regierung dies als ihre Emanzipation feiern wird. Aber das Land wird weiter überwacht, es muss sich weiter an die vereinbarten Regeln halten. Die Europäer haben sehr viel Geld in Griechenland investiert und deshalb ein berechtigtes Interesse daran, dass Athen weitermacht mit Reformen und liefert, was es versprochen hat.
Frankreichs Präsident Macron hat viele Euroreformen vorgeschlagen, darunter einen Haushalt und einen Finanzminister. Halten Sie das wirklich für nötig?
Die Konstruktion der Eurozone ist unvollendet, der Job muss zu Ende gemacht werden. Dazu gehört, die Bankenunion zu vollenden. Man muss die Risiken bei den Banken identifizieren und reduzieren, wozu hoffentlich strenge Stresstests beitragen. Dazu gehören auch die gemeinsame Einlagensicherung und eine gemeinsame Letztsicherung für die Abwicklung von Banken. Die zweite Aufgabe ist, einen europäischen Kapitalmarkt zu schaffen, um eine übermässige Abhängigkeit von der Kreditvergabe durch Banken zu reduzieren. Drittens plädieren wir für eine Art Fiskalkapazität für die makroökonomische Stabilisierung der Eurozone.
Reizt Sie es, angesichts des Aufbruchs in Europa, Ihre Karriere hier zu beenden?
(lacht) Was meinen Sie mit: meine Karriere beenden? Ich habe noch viel vor mir.
Pardon, sagen wir, Ihre Karriere in Europa zu vollenden?
Ich habe eine Vereinbarung mit dem IWF. Und ich versuche, so viel wie möglich beizutragen, um Europa zu stärken. Es ist nicht nur ein wirtschaftlicher Aspekt. In der gegenwärtigen geopolitischen Lage haben die Europäer eine herausragende Verantwortung für den Rest der Welt. Wenn der IWF helfen kann, werden wir das tun.
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