
Es war kurz nach neun Uhr morgens, als in Deutschland unvermittelt der Regenbogen aufging. Politiker im Bundestag jubelten und liessen bunte Konfetti regnen. Auf den Tribünen küssten sich gleichgeschlechtliche Paare, viele mit Tränen in den Augen. Draussen gingen überall zwischen Freiburg und Flensburg, zwischen Aachen und Görlitz die Regenbogenfahnen hoch. Sektkorken knallten und erste lesbische oder schwule Paare fragten sich: «Willst Du mich heiraten?»
«Heute ist ein grosser Tag für Schwule und Lesben», sagte Volker Beck. Der grüne Abgeordnete, der 23 Jahre lang dem Bundestag angehörte und im Herbst ausscheidet, hat sein ganzes politisches Leben lang für die Rechte der Homosexuellen gekämpft. Als eines der letzten Länder Westeuropas öffnet nun auch Deutschland die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Wer sich, wie Beck, für die vollständige Gleichstellung einsetzte, musste in den letzten Jahren vor allem warten können.

Vor 16 Jahren, 2001, hatte die rot-grüne Regierung von Kanzler Gerhard Schröder die eingetragene Partnerschaft eingeführt. Zwei Jahre später lag bereits ein Gesetzesentwurf vor, der die Öffnung der Ehe forderte – in der Substanz die Vorlage, die nun verabschiedet wurde. Dazwischen hatte nicht die Politik, sondern das Bundesverfassungsgericht die eingetragene Partnerschaft der Ehe steuer-, beamten- und familienrechtlich immer weiter angenähert. Zur Ehe fehlten zuletzt nur noch der Ehename und das Recht auf gemeinsame Adoption eines Kindes.
Merkel knickt ein
Noch vor einer Woche hätte es niemand für möglich gehalten, dass Deutschland nun innert Tagen zur «Ehe für alle» kommen würde. Angela Merkels christdemokratische Union hatte den letzten Schritt bislang stets blockiert. Doch als zuletzt reihum alle möglichen Koalitionspartner die «Ehe für alle» zur Bedingung für neuen Koalitionen im Herbst gemacht hatten, weichte die Kanzlerin ihre ablehnende Position auf. Sie erklärte, aus ihrer Sicht könne darüber jeder Abgeordnete ihrer Partei nach seinem Gewissen entscheiden. Gemeint hatte sie: im nächsten Bundestag.
Doch sogleich erklärte der Noch-Koalitionspartner SPD, in diesem Falle werde er mit der alternativen Mehrheit von SPD, Linken und Grünen die Ehe sofort öffnen. Die SPD kündigte damit die parlamentarische Koalition mit CDU/CSU faktisch auf. Der Bruch führt nur deswegen nicht zu einer Regierungskrise, weil in weniger als drei Monaten sowieso gewählt wird.

So stimmten am Freitag im Bundestag 393 Abgeordnete für die «Ehe für alle», aus den Reihen der Union gab es 226 Gegenstimmen. Immerhin ein Viertel der CDU/CSU-Fraktion, 75 Abgeordnete, stimmte der Öffnung der Ehe zu. Unter den Unions-Wählern beträgt die Zustimmung freilich längst zwischen 60 und 70 Prozent. Ein Ja legten unter anderem Merkel-Vertraute wie Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, Kanzleramtsminister Peter Altmaier oder Generalsekretär Peter Tauber in die Urne. Dagegen stimmten die meisten bedeutenden Minister, Finanzminister Wolfgang Schäuble etwa oder Innenminister Thomas de Maizière – vor allem aber Angela Merkel selber, die Stifterin der Gleichstellung wider Willen.
Merkel begründete ihr Nein auf gewohnt windungsreiche Art. Einerseits habe sie ihre Meinung wirklich geändert: Im Unterschied zu 2013 sei sie heute der Meinung, dass auch Homosexuelle gemeinsam Kinder adoptieren können sollten. Andererseits beharre sie auf dem geltenden Recht: «Für mich ist die Ehe im Grundgesetz die Ehe von Mann und Frau.»
Grundgesetz ändern?
Ihr Satz kam wie eine etwas gestrige Banalität daher, tatsächlich war er eine Antwort voller strategischen Hintersinns und rechtlicher Widerhaken. Namhafte Verfassungsrechtler halten die gerade verabschiedete «Ehe für alle» für verfassungswidrig. «Wenn man die Ehe öffnen will, muss man das Grundgesetz ändern», sagte etwa Hans-Jürgen Papier, der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, dem «Spiegel». In seiner bisherigen Rechtsauslegung habe es nämlich festgelegt, dass eine Ehe im Sinne des Grundgesetzes nur die «Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft ist».
Der Bundestag hat am Freitag aber lediglich ein einfaches Gesetz geändert, nicht das Grundgesetz. In einer derart wichtigen gesellschaftspolitischen Frage, sagen Verfassungsrechtler, gehe es aber nicht an, über ein Gesetz einfach die Verfassung neu zu interpretieren, nur weil sich die gesellschaftliche Haltung in der Zwischenzeit geändert habe. Man müsse diese direkt ändern. Eine Änderung des Grundgesetzes – es geht um Artikel 6, Absatz 1 – benötigt freilich eine Zweidrittelmehrheit. Die fehlt SPD, Grünen und Linken im aktuellen Bundestag. Und selbst mit den 75 «dissidenten» Stimmen der Union wäre sie am Freitag um fast 20 Stimmen verfehlt worden.
Solange die Koalitionsdisziplin die handstreichartige Einführung der «Ehe für alle» verunmöglichte, sah dies auch der sozialdemokratische Justizminister Heiko Maas noch so. Nun, da es machttaktisch nur diesen Weg gab, sagte er: «Wir sehen einen Wandel des traditionellen Eheverständnisses, der angesichts der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers die Einführung der ‹Ehe für alle› verfassungsrechtlich zulässt.»
Gut möglich, dass Karlsruhe die Öffnung der Ehe für Schwule und Lesben also bald beurteilen muss. Allerdings sind die Hürden dafür recht hoch: Ein Viertel der Abgeordneten des Bundestags oder aber eine Landesregierung müssen dafür eine sogenannte abstrakte Normenkontrolle veranlassen. Einzelne können gegen das Gesetz nicht vor dem Bundesverfassungsgericht klagen.
Freudentränen und Skepsis. Video: AFP
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Jubel unterm Regenbogen – Zweifel bei Juristen
Deutschland hat die Ehe für Schwule und Lesben geöffnet. Ob das Gesetz der Verfassung entspricht, ist allerdings fraglich.