«Jugendliche denken bei eigentlich banalen Problemen an Suizid»
Immer mehr Jugendliche mit Suizidgedanken suchen Hilfe. Psychologe Urs Kiener rät von einer Überbehütung ab.

Jedes Jahr kämpfen mehr Kinder und Jugendliche mit Angst und Suizidgedanken. Warum?
Das Phänomen ist rätselhaft. In Staaten mit labilen Strukturen, Armut, Hunger und politischer Instabilität ist die Suizidrate unter Jugendlichen viel tiefer. Begeht dort etwa eine Person pro 100'000 Suizid, sind es in hoch entwickelten Ländern 25. Meine Hypothese: Suizidgedanken werden nicht durch die objektive Lebenssituation, sondern durch die persönlichen Erwartungen an das Leben beeinflusst. Je besser die Lebensbedingungen, desto grösser die Erwartungen, desto höher das Risiko, enttäuscht zu werden.
Die Jugendlichen sind in ihren jungen Jahren bereits frustriert vom Leben?
Kann man so sagen. Parallel dazu beobachten wir in wohlhabenden Ländern bei der Erziehung zunehmend die Tendenz, Kinder von alltäglicher Verantwortung und Aufgaben zu entlasten. Umgangssprachlich spricht man bei diesem Phänomen von Helikopter-Eltern.
Was verstehen Sie darunter genau? Eltern, die sehr umsichtig erziehen, tendieren manchmal dazu, ihren Kindern Verantwortung und Aufgaben abzunehmen, mit welchen sie längst selbst umgehen könnten. Sie umkreisen ihre Kinder ständig beschützend. Für die Entwicklung von Selbstverantwortung und Selbstbewusstsein ist es aber wichtig, Probleme oder Herausforderungen alleine zu meistern und eigene Erfolge zu generieren.
Kinder von Helikopter-Eltern sind also schneller überfordert?
Ja. Fehlen diese Erfahrungen, kann das bei einzelnen Kindern dazu führen, dass eine Situation, wie zum Beispiel das Bestehen einer Prüfung, einen geradezu existenziellen Stellenwert erhält. Das Nichtbestehen kann eine tiefe Krise auslösen. Diese Jugendlichen denken bei eigentlich banalen Problemen an Suizid.
Wie kann man diesen Jugendlichen helfen?
Ich rate Eltern, möglichst nichts für ihr Kind zu tun, was es selbst kann. Sie erhöhen damit seine Chancen auf eigene Erfolgserlebnisse. Gerade für Kinder, die in der Schule Lernschwierigkeiten haben, sind Erfolgserlebnisse in ausserschulischen Bereichen sehr wichtig. Man sollte ihnen Kompetenzen zur eigenen Lebensgestaltung übertragen.

Momentan sorgt die Netflix-Serie «13 Reasons Why» für Gesprächsstoff. Darin nimmt sich ein Teenager-Mädchen das Leben. Haben Sie deshalb mehr Anfragen?
Nein, wir haben bisher keinen Anstieg bei Beratungen zu Suizidgedanken bemerkt.
Trotzdem besteht bei diesem Thema immer die Gefahr eines Nachahmereffekts.
Ja, im Falle der Serie ist es wichtig, dass die Berichterstattung dazu und auch die Serie an sich immer zusammen mit Anlaufstellen für Jugendliche präsentiert wird. Vor allem sollte man keine Methoden oder Mittel zum Suizid zeigen.
Helfen solche Massnahmen wirklich?
Absolut. Netze auf hohen Brücken, die Einlagerung von Armeemunition und die kontrollierte Abgabe von Medikamenten sind effektive Präventionsmittel bei der Verhinderung von Kurzschlusshandlungen.
Wird in der Schweiz genug getan, um Jugendliche zu schützen?
Angebote wie Beratung + Hilfe 147, die rund um die Uhr erreichbar sind, sind sehr wichtig. Weiterarbeiten müssen wir an der Enttabuisierung des Themas. Schulen und Eltern müssen die Signale erkennen, denn betroffene Jugendliche zeigen ihre Probleme.
Wie?
Sie ziehen sich zurück, verändern ihre Gewohnheiten, brechen die Beziehungen zu Freunden ab. Oftmals sind sie auch von Mobbing betroffen, sind auf dem Pausenplatz alleine.
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