«King Lear» am Schauspielhaus ZürichKalt, reduziert und darum gross
Gelacht haben wir nicht, aber geklatscht: «King Lear» in der Inszenierung von Johan Simons, die am Schauspielhaus Zürich gastiert.

Klein und mickrig steht er zu Beginn an der Rampe: «Bitte, lacht nicht über mich.» Der alte Mann und das Meer von Unglück: Regisseur Johan Simons hat König Lears späteres Elend in eine Ouvertüre hineinkatapultiert. Denn genau dies erzählt William Shakespeares 1606 uraufgeführte schwärzeste Tragödie «King Lear», die für Simons’ Inszenierung extra neu übersetzt wurde: Schmach und Schwachsinn und Schicksalsschläge sind immer schon da, warten direkt um die Ecke. Und der grösste Irrsinn ist, zu glauben, man könne unbeschadet durch die Zeit kommen.
Immerhin: Wir kommen beglückt durch die zweieinhalb Stunden dieser Shakespeare-Inszenierung des Bochumer Intendanten Simons, die nun ihre schweizerische Premiere am Pfauen hatte. Sie stammt aus dem berührungslosen Corona-Jahr 2020, und die typische Simons-Kälte scheint noch potenziert.
Da mag es angehen, dass Simons den Ausgangspunkt des Konflikts etwas locker-selbstironisch als eine Art Sitcom gestaltet: Der Streit darüber, welche der drei Töchter ihrem königlichen Vater die innigste Liebeserklärung macht, wird in seiner ganzen Lächerlichkeit blossgelegt. Narren sind sie alle, inklusive Kappe.
Anna Drexler schnattert als jüngste Tochter Cordelia ihre bitteren Gedanken schulmädchenhaft ins Leere, passend zu ihrem Outfit im Schotten-Mini («Was soll Cordelia sagen? Lieben ist schweigen»); und sie schletzt beim unfreiwilligen Abgang die – imaginäre – Tür wie ein beleidigter Backfisch. Ihre beiden Schwestern wiederum, Goneril und Regan, in Überkreuzbesetzung von Mourad Baaiz und Michael Lippold gegeben, haben in ihrer stereotypen Boshaftigkeit durchaus eine komische Note.

Richtig packend aber wird die Geschichte in dem vornehmlich aus Licht und Schatten und dröhnenden Geräuschen gebauten Bühnenkosmos, als die inszenatorische Reduktion ins Extrem getrieben wird (Lichtdesign: Bernd Felder, Soundkonzept: Warre Simons). Schon vor rund zwei Jahrzehnten begeisterte der grosse Zerkleinerer Simons am Pfauen mit einer radikal runtergefahrenen, hochmotorigen Arbeit.
Diesmal liess er den Schauspielerinnen und Schauspielern gar bloss einen Dreckhaufen auf die Bühne schaufeln. Schliesslich landen da am Ende alle, Erde zu Erde, Staub zu Staub. In «King Lear» ist der Blutzoll bekanntlich hoch: Die drei Schwestern, der König, der Graf von Gloster, der dem König helfen will, sowie sein intriganter jüngerer Sohn (Patrick Berg) und auch Gonerils mörderischer Haushofmeister (Stefan Hunstein), sie alle müssen dran glauben.
Die sechs Durchgänge, die für die Figuren entworfen wurden, damit sie von hinten, aus dem Bühnen-Fond mit «Theater-Teeküche» und Siebzigerjahre-Täfer, ostentativ nach vorne auf die Spielbühne treten können, sind angelegt wie monströse Grabsteine – viel zu hoch. Keiner kann sein Profil ausfüllen, und jeder wird im Verlauf des Geschehens seine Grösse verlieren, seine Bedeutung, sein Leben (Bühne: Johannes Schütz). Für alle ist die Welt so düster wie für den Grafen von Gloster, dem beide Augen zerdrückt werden, weil er King Lear zur Seite stand, als die beiden älteren Töchter den hilflosen, verwirrten Greis auf die Strasse jagten. Nur ein scharfsichtiger Narr begleitet lange Zeit den König – hier gespielt von Anna Drexler, getreu der gelegentlichen Deutung, dass Shakespeare diesen Rollenwechsel genau so vorgesehen hatte.

Doch je dunkler die Geschichte wird, desto heller leuchten die zwei schwer enttäuschten Vatergestalten: Pierre Bokma als Lear und Steven Scharf als Gloster. Es ist, als habe der Regisseur sie bei einer Casting-Agentur bestellt: den fragilen Lear mit schütterem Bart, der während des Abends seines schwarzen Jacketts verlustig geht, und den Hünen Gloster im grauen Manageranzug, der gegen Ende in Strümpfen in den Tod zu springen versucht. Riesig und winzig, bei Sinnen und verrückt: Sie sind ein Kontrastprogramm und sich doch verdammt ähnlich als Jedermänner der etwas anderen Art. Und beide verdienen fetten Applaus.
Temporäre Aufschwünge vor der finalen Katastrophe takten das Stück. Dazu gehört der Einsatz eines scheinbaren Penners, der sich als Glosters älterer Sohn entpuppt: Konstantin Bühler macht als verzweifelnder Tröster Eindruck. Simons schickt ihn untenherum entblösst auf die Bretter: als «Hund», als Ausdruck dessen, was bleibt, wenn nichts mehr bleibt und wenn die anderen, jene, die im Moment gerade noch begünstigt sind, vorbeiwummern wie Autos auf einer Autobahn.
Dieses Wummern hört man denn auch vor dem letzten vernichtenden Satz des sterbenden Lear, mit dem der Regisseur die Aufführung schliessen lässt: «Und meinen Narren haben sie erhängt!» Nein, gelacht haben wir nicht über den abgehalfterten König, der uns nur zu gut an unsere eigenen Irrungen erinnert. Aber geklatscht.
Bis 15.12. am Schauspielhaus Zürich
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