Kann Erdogan die Türkei nach Europa führen?
Das Wahlresultat hat die Sorge um Allmachtsfantasien der türkischen Regierungspartei zerstreut. Nun liegt es in Tayyip Erdogans Hand, die schlagkräftigste Munition seiner europäischen Kritiker zu entschärfen.

«Die Menschen haben uns gesagt, dass die neue Verfassung durch Kompromiss, Beratungen und Verhandlungen entstehen soll.» Mit diesen Worten kommentierte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan seinen Sieg an den Parlamentswahlen vom Wochenende. In seiner Rede liess er sich keine Enttäuschung über die angestrebte, gleichwohl klar verfehlte Zweidrittelmehrheit anmerken.
Das bedeutet, Erdogan schliesst als Realpolitiker einen Alleingang zu einer neuen Verfassung aus. Und genau das ist bisher die grösste Sorge im Westen gewesen, da die zur alleinigen Verabschiedung einer neuen Verfassung nötige Zweidrittelmehrheit für die AKP vor der Wahl nicht unmöglich schien. Nun muss sich die Regierung mit den übrigen Parteien über den Verfassungstext einigen.
Die derzeitige türkische Verfassung war 1982 unter Herrschaft der Militärs nach einem Staatsstreich in Kraft getreten. Obwohl grundsätzliches Einvernehmen der Parteien darüber herrscht, dass das EU-Bewerberland eine neue, moderne und demokratischere Verfassung braucht, haben sich die verschiedenen Lager bisher nicht auf einen gemeinsamen Entwurf einigen können.
EU signalisiert Gesprächsbereitschaft ...
Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) stellten der Wahl ein relativ gutes Zeugnis aus: Die Abstimmung sei gut organisiert gewesen und eine Demonstration des Pluralismus in der Türkei. Die OSZE-Delegation verwies aber auch auf Defizite, die bei der Ausübung der Meinungsfreiheit abzubauen seien und der Notwendigkeit, eine Medienlandschaft «frei von politischem Druck» zu schaffen. Die Zehn-Prozent-Hürde verhindere zudem die Repräsentanz kleinerer Parteien im Parlament, hiess es weiter.
Sollte Erdogan tatsächlich wie angekündigt einen Dialog der Parteien und gesellschaftlichen Kräfte aufnehmen und einen Konsens für eine Verfassungsreform erzielen, gingen den Gegnern eines EU- Beitritts ihre bislang wichtigsten Argumente verloren. Die von der Militärdiktatur 1982 eingesetzte Verfassung gilt mit den Garantien für einen säkularen Staat bislang zwar auch als Bollwerk gegen islamischen Fundamentalismus. Der Weg zur Demokratie nach westlichem Verständnis kann aber auch nach Einschätzung der EU nur über eine neue, moderne Verfassung führen.
EU-Kommissionspräsident Manuel José Barroso und EU-Ratspräsident Herman van Rompuy wiesen darauf in einem Glückwunschschreiben an Erdogan hin: «Das Ergebnis eröffnet den Weg zur weiteren Stärkung der demokratischen Institutionen der Türkei ebenso wie zur fortgesetzten Modernisierung des Landes im Sinne europäischer Werte und Standards», schrieben sie. Auch die Chance zur Stärkung des Vertrauens zwischen der Türkei und den EU-Mitgliedstaaten sei vorhanden. Fortschritte in diesen Bereichen sollten den Beitrittsverhandlungen neuen Schwung geben, hiess es weiter. Barroso und Van Rompuy luden Erdogan nach Brüssel zu Gesprächen über eine mögliche Annäherung der Türkei an die EU ein – zu einem ihm genehmen Termin.
... während Deutschland skeptisch bleibt
Deutsche Politiker mahnten derweil weitere Reformen an. Der Aussenpolitikexperte der SPD-Fraktion, Dietmar Nietan, erklärte, nun müsse Erdogan beweisen, dass er weiterhin willens und in der Lage sei, die Türkei entscheidend in Richtung demokratischer Reformen und damit in Richtung Europa zu leiten. So müsse er nun bei der Verfassungsreform auch den anderen Fraktionen zusammenarbeiten. Verbesserungen bei der Pressefreiheit und im Umgang mit ethnischen und religiösen Minderheiten würden vielen Kritikern innerhalb der EU zudem den Wind aus den Segeln nehmen, fügte er hinzu.
Die Chefin der deutschen Grünen, Claudia Roth, zeigte sich mit dem Wahlergebnis zufrieden. In Erdogans Sieg liege aber auch eine Niederlage, sagte sie dem Sender MDR Info: «Er wollte das türkische System ändern hin zu einem Präsidialsystem, in dem er dann als Präsident weitreichend mehr Kompetenzen und Rechte bekommen hätte.» Dieses selbst gesteckte Ziel der Zweidrittelmehrheit habe er aber deutlich verfehlt. Das Wahlergebnis sei darum vor allem für die Gegner des Regierungschefs «eine Beruhigung, die Angst hatten vor einem Grössenwahn, den Erdogan doch in der letzten Zeit häufiger gezeigt hat».
Die neue Türkei
Erdogan selbst erinnerte in seiner Siegesrede in Ankara an das politische Chaos der Vergangenheit und verwies auf die demokratischen Fortschritte. «Die Türkei, die von den Banden bestimmt wurde, ist eine Sache der Vergangenheit», sagte er. Seit seinem ersten Wahlsieg 2002 hat Erdogan das Land mit wirtschaftlichen Reformen auf Wachstumskurs gebracht. Im vergangenen Jahr wuchs die türkische Wirtschaft um fast neun Prozent. Von den G-20-Staaten hatte nur China ein grösseres Wachstum.
Das gibt der Türkei ein ganz anderes Gewicht als bei Erdogans erstem Wahlsieg 2002. Nato und EU dürften es inmitten des Aufruhrs im Nahen und Mittleren Osten zunehmend schätzen, einen demokratischen muslimischen Verbündeten an ihrer Südostflanke zu haben. Sollten Erdogan und seine AKP den Weg demokratischer Reformen einschlagen, werden sich auch Berlin und Paris bewegen müssen, die bislang gegen eine volle EU-Mitgliedschaft der Türkei sind. Erdogans Wahlsieg hat noch nichts entschieden, aber er hat vieles konkretisiert, was in naher Zukunft geschehen könnte, sollte, müsste.
SDA/ dapd/ afp/ssc
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