Das Wochenende blieb in Barcelona ruhig, abgesehen von eingeschlagenen Scheiben bei Radio Catalunya durch neofranquistische Gegner der Unabhängigkeit. Auf Seiten der Befürworter war ab Montag ziviler Ungehorsam geplant: Ein zehntägiger Generalstreik sollte die Region wirtschaftlich lahmlegen, um Druck auf Spanien auszuüben. Bereits am Freitag hat der wichtigste nationale Aktienindex IBEX 35 insgesamt 3 Prozent verloren, eine Verschärfung des Konflikts wird ihm weiter zusetzen.
Zum zehntägigen Streik hatte das regionale Gewerkschaftsbündnis Confederacion Sindical Catalana CSC aufgerufen. Nun ist dieser Streik zumindest für Montag abgesagt. Über das weitere Vorgehen will die Gewerkschaftsführung heute entscheiden. So oder so soll die Grundversorgung der Bevölkerung aufrechterhalten werden; der Regionalverkehr auf der Schiene würde aber auf einen Drittel reduziert werden, die öffentlichen Busverbindungen auf die Hälfte. Aufrechterhalten werden sollen auch die medizinische Notfallversorgung und ein Grundangebot von Schulen und Krippen.

Die Streikabsage für Montag war eines von mehreren Entspannungssignalen an diesem Wochenende: Erst sprach sich der abgesetzte katalanische Ministerpräsident Carles Puigdemont in einer Rede auf dem katalanischen Sender TV 3 am Samstag für Ruhe, Einhaltung der demokratischen Regeln und friedlichen Widerstand aus und signalisierte danach Normalität mit einem besonnenen Gang durch die Stadt Girona, wo er einst Bürgermeister war. Auch der von einem Strafverfahren bedrohte abgesetzte Chef der katalanischen Polizei «Mossos d'Esquadra», Josep Lluis Trapero, setzte auf Entspannung und rief seine ehemalige Truppe zur Loyalität gegenüber der neuen Führung auf. Die spanische Fahne blieb neben der katalanischen Fahne auf dem Regierungsgebäude in Barcelona gehisst – im Unterschied zu den Städten Girona und Figueres.
Puigdemont darf im Dezember kandidieren
Sollte es zu einem neuen Streikaufruf kommen, so wird die Streikbeteiligung der rund 200'000 Angestellten im öffentlichen Dienst Kataloniens ein erstes Barometer für den Wahlausgang am 21. Dezember sein. Wer streikt, dem droht die Entlassung, nachdem das oberste Gericht Kataloniens unter der neuen Kuratel Madrids den Streik für illegal erklärt hat. Der spanische Bildungsminister Íñigo Méndez de Vigo, zugleich Sprecher der Regierungspartei PP, setzte seinerseits ein Entspannungszeichen, als er gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters sagte, dass alle katalanischen Politiker für die Wahlen im Dezember kandidieren können, folglich auch der abgesetzte Ministerpräsident Puigdemont. Als Einschränkung nannte er das nationale Strafrecht, betonte aber gleichzeitig die Unabhängigkeit von Untersuchungsbehörden und Gerichten (was die katalanische Seite bezweifelt).

Wieweit sich Puigdemont mit seinem gestrigen Aufruf zum friedlichen Verhalten nun einer strafrechtlichen Verfolgung wegen «Rebellion» entziehen kann, ist offen. Die auf Ausgleich bedachte bürgerlich-katalanische Redaktion von «La Vanguardia» in Barcelona bezeichnet den Parlamentsentscheid vom Freitag neuerdings nur noch als «halbe Unabhängigkeitserklärung» – schliesslich hatte sich auch Puigdemont zuvor für Neuwahlen im Dezember ausgesprochen und fühlte sich erst durch die fehlenden Garantien aus Madrid zur Unabhängigkeitserklärung gedrängt. Laut einer Umfrage der Madrider Tageszeitung «El Pais» sind 52 Prozent der katalanischen Bevölkerung für die Neuwahlen im Dezember, für die Unabhängigkeit sollen gegenwärtig nur noch 29 Prozent sein. Solche Umfragewerte sind aber mit Vorsicht aufzunehmen – je nachdem, welche Seite sie erhoben hat, unterscheiden sich die Zahlen stark.
Wieweit nun auch der harte Flügel der Regierungspartei PP auf die Entspannungssignale aus Barcelona eingeht, wird sich in den nächsten Tagen zeigen. Entscheidend wird sein, ob der Generalstreik in den nächsten Tagen ausgerufen wird und wie stark er befolgt wird. Ein mehrtägiger Generalstreik in Katalonien würde die spanische Wirtschaft erheblich schwächen und die Polarisierung verstärken. Offen ist auch, wie das Kleingewerbe und seine Verbände auf den Streikaufruf reagieren wird. Es ist traditionell katalanisch und hatte nach den Prügelszenen der Guardia Civil vor den Abstimmungslokalen den Streik vom 3. Oktober geschlossen unterstützt. Aber nun beginnt auch das Gewerbe unter sich abzeichnenden wirtschaftlichen Krise in Katalonien zu leiden. Der katalanische Unternehmerverband hatte aus diesem Grund schon den Generalstreik vom 3. Oktober nicht unterstützt.
Bilder: Unabhängig, aber dialogbereit
Damals war es gelungen, Verwaltung, Geschäfte und auch den Verkehr auf Schiene und Autobahn praktisch lahmzulegen. Das wird unter der Kuratel von Madrid nicht mehr möglich sein. Im Unterschied zum 3. Oktober werden Aufruf und Beteiligung am Streik nach der Unabhängigkeitserklärung von Madrid nun als «aufrührerisches Verhalten» gewertet und strafrechtlich verfolgt. Das oberste katalanische Gericht hat unter dem neuen Regime des Bundeszwangs den Streik bereits als illegal erklärt. Es ist auch nicht zu erwarten, dass die Sondereinheiten von Guardia Civil, Policia Nacional und die neu Madrid unterstehenden «Mossos d'Esquadra» eine neue Sperrung der Autobahn auf der für Spanien wichtigen Nord-Süd-Achse tagelang zulassen.
Firmen fürchten unklare Rechtsverhältnisse
Die beiden Kulturorganisationen Òmnium Cultural und Asamblea Nacional hatten schon vor gut Wochenfrist ihre zusammen gut 120'000 Mitglieder aufgerufen, Geld von den Banken abzuheben. Dies als Protest dagegen, dass die beiden Jordis, die Köpfe dieser Organisationen, seit dem Mitte Oktober in Haft sind. Zwar bildeten sich in der Folge vor den Bankfilialen der Caixa längere Schlangen, aber die Caixa-Bank wäre im Notfall von der Zentralbank in Madrid mit ausreichender Liquidität versorgt worden. Die Caixa hatte solche Ereignisse vorausgesehen und als eine der ersten Firmen ihren Sitz nach Valencia verlegt, damit ihre Kleinsparer auch im Falle einer katalanischen Unabhängigkeitserklärung die Staatsgarantie nicht verlieren würden.
Inzwischen sollen über 2000 Firmen ihren Sitz aus Katalonien verlegt haben, unter ihnen mit der Versicherungsgruppe Zurich auch eine Schweizer Firma. Die Versicherungen fürchten unklare Rechtsverhältnisse nach der Unabhängigkeitserklärung und der Anordnung des Bundeszwangs nach Artikel 155 der spanischen Verfassung. Laut der schwedischen Beratungsfirma Kreab will angesichts der unsicheren Rechtslage gegenwärtig gut die Hälfte von 29 internationalen Anlagefirmen mit Investitionen in Spanien zuwarten. Der Tourismus in Katalonien rechnet mit einer Umsatzeinbusse von von 1.1 Mrd. Euro, die Buchungen sind fürs letzte Quartal um 20 Prozent zurückgegangen. Bleibt dies auf Dauer so, wo wären in diesem Sektor gegen rund 80'000 Arbeitsplätze gefährdet.
Die spanische Regierung hat seit dem 1. Oktober alles gemacht, um den Firmen den Auszug aus Katalonien zu erleichtern. Neuerdings reicht dafür ein Beschluss des Aufsichtsrates ohne Zustimmung der Aktionäre, was die rasche Abwanderung erklärt. Banken und Versicherungen fürchten die Risiken und rechtliche Unklarheit, wenn sich die Eskalationsspirale weiter dreht. Die Mediengruppe Planeta und auch die Cava-Produzenten Freixenet und Codorníu fürchten Boykotte gegen ihre Produkte ausserhalb von Katalonien, wenn der neu entfachte, spanische Nationalismus gegenüber Katalonien weiter seine Reihen schliessen sollte.
Wichtige Signale aus Madrid
Spaniens nationale Wirtschaft hat auf die Krise in Katalonien bis zum Freitag nur wenig reagiert. Der IBEX 35 schien die Zuspitzung in Katalonien seit Mai erwartet zu haben. Er war damals um rund 1000 Punkte gesunken, blieb aber nach dem 1. Oktober vergleichsweise stabil. Das erwartete Wachstum des Bruttoinlandprodukts 2018 wurde um 0,3 Prozentpunkte nach unten korrigiert, liegt aber immer noch bei 2,3 Prozent. In der Tat drohte eine Welle des zivilen Ungehorsams mit Generalstreik der Region selbst wirtschaftlich am meisten zu schaden. Wenn die Touristenzahlen in Barcelona wie aktuell 15 Prozent tiefer sind, ist dies verkraftbar und wird die Bewohner der Metropole, die unter hohen Mieten und Staus leiden, erst mal aufatmen lassen. Aber die Arbeitslosigkeit ist wie in ganz Spanien im EU-Vergleich nach wie vor hoch, unter Jugendlichen speziell – gegen 100'000 weitere Arbeitslose aus dem Tourismussektor (falls der Rückgang anhält) wünscht sich hier niemand.
Das ist der tiefere Grund für die noch am Freitag nicht erwartbaren Entspannungssignale aus Katalonien. Es sind erst schwache Signale und eine harte Antwort von Madrid, etwa die Verhaftung Puigdemonts und Anklage wegen «Rebellion», würde sie jederzeit wieder übertönen. Puigdemont gilt seit seinem Liebäugeln mit Neuwahlen unter den radikalen Katalanen inzwischen als Verräter. Auch die linke Partei Podemos droht sich in dieser Frage mit ihrer katalanischen Fraktion zu spalten. Die nationale Parteiführung ist für Neuwahlen und hofft auf Zuwachs, die regionale ist dagegen, weil am 21. Dezember die parlamentarische Mehrheit für die Unabhängigkeit in Frage stellt. Ein hartes Vorgehen aus Madrid, etwa der Ausschluss aller Kandidaten, die am Freitag im Parlament für die Unabhängigkeit gestimmt haben, würde diese Partei wieder einen.
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Katalonien und die halbe Unabhängigkeitserklärung
Nach dem kurzen Wochenende der Unabhängigkeit gibt es aus Madrid und Barcelona Signale der Entspannung.