Keine Anzeichen von Erschöpfung
In Frankreich läuft die entscheidende Woche im Streit um die Rentenreform. Die Mobilisierung ist hoch, die Blockaden nehmen zu.
Von Oliver Meiler, Marseille Über 1000 französische Tankstellen sind schon trocken – von insgesamt 13 000. Sehr schnell dürften es viele mehr sein, denn alle 12 Raffinerien im Land werden bestreikt, und der Zugang zu den Depots ist blockiert. Wer noch Benzin hat und auf der Autobahn fährt, dem kann es passieren, dass er in eine Schneckenaktion der Camionneure gerät, die sich der Protestbewegung angeschlossen haben. Von den Zügen der SNCF fährt an diesem Dienstag, dem fünften nationalen Kundgebungs- und Streiktag seit Anfang September, nur jeder zweite. Regulär verkehrt allein der Eurostar zwischen Paris und London. Bei Air France fällt heute jeder dritte Flug aus. In Paris ist es gar jeder zweite. Widerstand auch von rechts Das ist das jüngste Bulletin einer sozialen Protestbewegung, die in Wucht und Ausdauer sowohl die Regierung als auch die Gewerkschaften überrascht. Die Liste liesse sich mit vielen weiteren Aktionen verlängern: mit Hafenblockaden, mit bestreikten Kehrichtdiensten und Hunderten geschlossenen Gymnasien. Der Protest ist populär: In der jüngsten Umfrage des «Parisien» stehen noch immer 71 Prozent der Franzosen hinter den Streikenden. Obschon eine Mehrheit im Volk gleichzeitig der Meinung ist, dass das Rentensystem reformiert werden muss. Das ist nur vordergründig widersprüchlich. Je länger die Revolte dauert, desto deutlicher wird, dass sie eine breite Unzufriedenheit der Franzosen zum Ausdruck bringt, die in der Rentenreform nur ein gutes Ventil gefunden hat. Im Zentrum des Unmuts steht der unpopuläre Präsident Nicolas Sarkozy, prominentester Vertreter einer Elite, von der viele glauben, sie wälze die Kosten der Krise und der leeren Staatskassen unfairerweise auf die Schwächsten der Gesellschaft ab. Nicht nur links ist dieses Gefühl stark – und nicht nur unter Beamten, denen der Ruf vorauseilt, sie stemmten sich gegen alle Reformen, die ihre Privilegien tangierten: Der Widerstand gegen die Rentenreform beseelt auch viele rechte Wähler. Risse im Gewerkschaftslager Dennoch scheint Sarkozy zuversichtlich zu sein, dass er diese entscheidende Woche unbeschadet übersteht, seine wichtigste Reform im Senat planmässig und ohne Konzessionen durchbringt – und sich dann auf die Kampagne für die Präsidentenwahl 2012 konzentrieren kann. Er zählt auf eine Ermattung der Bewegung. Das tut er zwar schon lange. Doch nun machen ihm zwei neue Faktoren Hoffnung. Erstens beginnen am kommenden Wochenende die Herbstferien an den Schulen, was den Aufstand an den Gymnasien eindämmen dürfte. Am Montag gab es wieder Auseinandersetzungen zwischen randalierenden Jugendlichen und der Polizei – keine schönen Bilder. Zweitens werden im gegnerischen Block der Gewerkschaften erste Risse sichtbar. Bisher waren die grossen Verbände immer geeint aufgetreten. Keiner der Gewerkschaftschefs forderte eine Archivierung der Reform, sie verlangten nur einen Dialog und Korrekturen am Text des Regierungsprojekts. Nun aber macht es den Anschein, als wolle die gemässigte Nummer zwei unter den Organisationen, die CFDT, die Kraftprobe abbrechen – zufrieden mit der Mobilisierung von Millionen Bürgern. In Frankreichs grösster Gewerkschaft dagegen, der CGT, wächst die Strömung jener, die eine Radikalisierung der Bewegung fordern. Sie wollen die französische Wirtschaft blockieren, um die Regierung zum Rückzug der Reform zu zwingen. Ihre Entschlossenheit wird genährt vom beständigen Goodwill im Volk. Die Frage ist nun, wer gewinnt: die Moderaten oder die Maximalisten? Am Donnerstag wollen sich die Gewerkschaften über eine Fortsetzung des Protests einigen – oder über dessen Abbruch. Alles hängt von den nächsten Streikbulletins ab. Und vom Benzinfluss an den Tankstellen. Randalierende Gymnasiasten liefern sich in Lyon eine Strassenschlacht mit der Polizei. Foto: Philippe Desmazes (AFP)
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