Klettern, wo keiner dran denkt
Eine Hilfsorganisation ermöglicht syrischen Flüchtlingen im Libanon das Klettern. Eine Sportart, die im Land kaum Tradition hat – doch unbeschwerte Momente verschafft wie kaum eine andere.
In der Bekaa-Ebene nimmt der Wind zuverlässig mit dem Sonnenstand zu und lässt die Hizbollah-Flaggen wehen. Es ist fruchtbares Land, das am Fusse des Anti-Libanon liegt, jenem lang gestreckten Gebirge, das die Grenze zu Syrien bildet. Der Wind streicht über Plantagen und Betonhäuser, die nie fertig gebaut wurden, mit ihren Armierungseisen, die in den Himmel ragen, als sollte noch etwas kommen. Aber auch über behelfsmässige Verschläge aus Holzlatten und Blachen, die von Autoreifen an Ort gehalten werden – die Camps syrischer Flüchtlinge.
Seit dem syrischen Bürgerkrieg sind sie zahlreich über die Hügel gekommen. Als billige Arbeitskräfte sind sie der Motor der Landwirtschaft in der Bekaa-Ebene. Schlechte Arbeitsbedingungen, geringer Lohn, eine Übergangslösung. Die Kinder tummeln sich entlang der Strassen, spielen mit streunenden Hunden, Luftgewehren und Handys, die ihnen amerikanische Wrestler zeigen, in denen sie Helden sehen.
Endstation Checkpoint
Mittendrin steht ein seltsames Gefährt mit Schweizer Kennzeichen. Der «Rolling Rock», das Mobil des Schweizer Hilfswerks Climbaid. Es ist ein zur Kletterwand umfunktionierter Kleinlastwagen, der Blicke und Gehupe auf sich zieht. Initiator Beat Baggenstos, ein 35-jähriger Schweizer, erklärt hoch über der Bekaa-Ebene, man sieht bis nach Syrien: «Ich möchte mit dem Klettern weitergeben, was mir selber zu einem inneren Frieden verholfen hat.»
Bis 2015 war Baggenstos Bankangestellter, verwaltete das Vermögen der privilegierten Welt und bereiste in seiner Freizeit als Kletterer die Welt. Er bewegte sich in einer «Outdoor-Mittelstandsblase», begann aber sein Dasein zu reflektieren. «Da gibt man zwar viel Geld für Ausrüstung und Flüge aus. Doch was bleibt zurück ausser dem persönlichen Erlebnis?»
Baggenstos wollte als Kletterer geben, nicht nur nehmen. Er kündigte seinen Job. Im Libanon schloss er sich dem Hilfswerk Salam an, erlebte die zahlreichen von Krieg und Flucht gezeichneten Menschen. Klettern hatte ihm die Augen geöffnet – ob es auch den Geflüchteten helfen kann? Immerhin ist die therapeutische Wirkung etwa bei Depressionen wissenschaftlich belegt. Die Magie, wenn alles vergessen geht, nur noch der nächste Griff zählt und man langsam Höhe gewinnt, Angst überwindet und mit den letzten Kraftreserven ganz oben steht. Was kann sie bewirken? Baggenstos wollte einen Ausflug in die Berge organisieren, scheiterte aber am Militär. Ohne Papiere können Flüchtlinge die Checkpoints nicht passieren. Darauf reifte in ihm die Idee, dass er den Berg eben zu ihnen bringen muss.
Wie ein mit Smarties bestückter Kuchen auf Rädern
Zurück in der Schweiz, gründete Baggenstos den gemeinnützigen Verein Climbaid. Schon bald organisierte ein ganzes Team von passionierten Kletterern unter dem Projektnamen «Maxi Family» mehrmals wöchentlich Kletterkurse für Asylsuchende in der Boulderhalle Minimum in Zürich. Inzwischen finden die Kurse in schweizweit sieben Kletterhallen statt. Ende 2016 sammelte die Gruppe Spenden über 50'000 Franken und kaufte damit einen Kleinlastwagen, baute ihn in Hunderten Arbeitsstunden zum «Rolling Rock» um und verschiffte ihn.
Wie ein mit Smarties bestückter Kuchen auf Rädern stand das Gefährt diesen Mai in der Stadt Chtoura bereit – doch es konnte nicht losgehen. Eine Achse war gebrochen, weil die Strassen im Libanon viele Schlaglöcher haben, die man leicht übersieht. Tagelang studierte Baggenstos Baupläne, telefonierte mit Mechanikern in der Schweiz, ob Ersatz geliefert werden könnte, und erschrak über die Preise. Zehntausend Franken – beide Achsen hätten durch eine neue Doppelachse ersetzt werden müssen. Ein libanesischer Mechaniker konnte das Problem schliesslich temporär beheben. Die Achse hält bis heute.
Am Anfang flogen Steine
Es ist Ramadan, Fastenmonat. Im Abendlicht steuert der «Rolling Rock» das Camp Bar Elias an, das direkt an einer stark befahrenen Strasse liegt, der Verkehr ist gesetzlos. Kaum steht das Mobil, kommen von überall her Kinder angerannt. Fast alle haben Familienangehörige in Syrien verloren oder zurückgelassen. Viele stammen aus Aleppo, der schwer umkämpften Stadt. Klettern war den meisten bis vor kurzem fremd. Doch inzwischen setzen sie auf das wöchentliche Tüfteln an den kniffligen Kletterproblemen. «Als wir das erste Mal hier waren, wurden wir kritisch angeschaut», erinnert sich Baggenstos. «Und doch war sofort klar, worum es geht. Wir wecken eine Intuition, die in den Menschen universal verankert zu sein scheint: Da will ich hoch!»
In der Anfangsphase musste sich Climbaid allerdings einmal unter Steinwürfen davon machen. «Da war der Andrang so gross, wir wurden regelrecht überrannt und konnten nur noch Hals über Kopf fliehen. Die Leute waren frustriert.»
Für kurze Zeit nicht an Krieg denken
Zu Climbaid gehören Volontäre, die aus aller Welt kommen. Ihr Lohn ist die Gemeinsamkeit; klettern verbindet. Sie geben Kletterschuhe aus, erklären, dass sie an den Zehen schmerzen müssten, sonst seien die Schuhe zu gross. Die Kletterer zeigen vor, wie man seine Reichweite optimieren oder einen abschüssigen Griff besser greifen kann. Als die Sonne hinter den Hügeln verschwindet, ist Bar Elias zum Flecken in der Bekaa-Ebene geworden, an dem die Schrecken des Kriegs vergessen gehen, wenigstens für kurze Zeit.
Zum Iftar, dem Fastenbrechen nach Sonnenuntergang, wird in ein Zelt gebeten. Trotz der ärmlichen Verhältnisse wird reich aufgetischt: gefüllte Gurken, Reis mit süsslich mariniertem Hähnchen, Fladenbrote und zerdrückte Aubergine, dazu den süssen Tamarind. Tags darauf fährt der «Rolling Rock» weiter in den Norden nach Ras Baalbek. Eine christliche Kleinstadt, die bis vor einem halben Jahr noch von Jihadisten umzingelt und bedroht war. Man scheut sich nicht, in jene Gebiete entlang der syrischen Grenze zu fahren, die in sämtlichen Reiseempfehlungen als «zu meiden» gekennzeichnet sind. Ein enger Austausch mit den lokalen Behörden und der libanesischen Caritas-Organisation, die den Einsatz finanziert, gewährt die Sicherheit. Trotz der starken Präsenz der libanesischen Armee leben die Menschen hier immer noch in Angst.
Auch Mädchen machen mit
Die Kinder, die hier zum Klettern kommen, sind Libanesen. Zwar sind sie nicht auf der Flucht, doch der Krieg hat auch für sie vieles verändert. Die Berge, die sie gerne zum Wandern, Jagen und Spielen aufsuchten, sind jetzt vermintes Sperrgebiet. Sie tummeln sich stattdessen auf den wenigen Spielplätzen oder beschäftigen sich zu Hause mit ihren Handys. Einige tragen Messer mit sich, für den Fall, dass sie sich verteidigen müssen – gegen die Bedrohung aus den Bergen.
Die Caritas beobachtete in den letzten Jahren eine zunehmende Gewaltbereitschaft unter jungen Männern.
Das Klettern soll da nebst einer sportlichen Abwechslung auch ein Gemeinschaftsgefühl schaffen. «Klettern ist ein Miteinander. Da treten nicht zwei Mannschaften gegeneinander an, um sich zu besiegen. Aggressionen gibt es keine», sagt Baggenstos und fügt an, dass Klettern auch ein geschlechtsneutraler Sport sei. Der Gleichstellungseffekt ist enorm, da Beweglichkeit Kraft nicht nur wettmacht, sondern oft auch übertrumpft.
Und so sind es auch im Libanon nicht selten die Mädchen, die zuerst von ganz oben jubeln.
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