
Manche Menschen scheinen sich bereits durch die Nennung des Begriffs «Komplementärmedizin» persönlich angegriffen zu fühlen. Für sie ist klar, dass alles, was unter dieser Bezeichnung angeboten wird, Hokuspokus ist. Und dass seit 2016 die Grundversicherung unter gewissen Voraussetzungen definitiv dafür aufkommen muss, bedeutet für diese Menschen nicht weniger als das Ende der Aufklärung und den Untergang des Abendlandes.
Es überrascht deshalb wenig, dass eine Auswertung des Krankenkassenverbands Santésuisse, welche die «SonntagsZeitung» am Wochenende publik gemacht hat, für hohe Wellen sorgt. Tatsächlich ist der Befund unerwartet: Ärzte, die neben Schulmedizin auch Komplementärmedizin praktizieren, sollen pro Patient 22 Prozent teurer sein – und zwar schon seit mindestens 10 Jahren. Würden die ausgelösten Kosten in Apotheken, Labors sowie Physiotherapie einbezogen, betrage der Unterschied immerhin noch 11 Prozent, schreibt der Verband in seiner knapp abgefassten Veröffentlichung im Magazin «Infosantésuisse».
Bisher stützten sich alle auf Berechnungen von 2005 im Rahmen des nationalen Programms zur Evaluation in der Komplementärmedizin, die ebenfalls mit Daten von Santésuisse arbeitete und zu einem gegenteiligen Schluss kam: Die Kosten zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung pro Patient und Jahr sind nicht höher als bei rein schulmedizinisch tätigen Ärzten. Wer recht hat, werden eingehendere Analysen zeigen müssen. Es ist jedoch mit Sicherheit nicht so, dass die neuen Santésuisse-Berechnungen die bisherigen Untersuchungen zu dem Thema pulverisieren. Im Gegenteil: Es bleiben erhebliche Zweifel an den auf anderthalb Seiten selektiv dargestellten Erkenntnissen.
Was sich aber bestätigt: Die Kosten laufen nicht aus dem Ruder, nur weil die Komplementärmedizin nun teilweise über die Grundversicherung abgerechnet werden kann. Santésuisse schreibt selbst, dass die Komplementärmedizin nur einen «geringen Anteil» am Gesamtkuchen der Grundversicherung habe. Es handelt sich letztlich um wenige Promille des ambulanten Bereichs.
Die Empörung ist deshalb überwiegend weltanschaulicher Natur und im Grunde völlig überspannt. Denn letztlich lenkt sie von den eigentlichen Problemen im Gesundheitswesen ab. Von Homöopathie über traditionelle chinesische und anthroposophische Medizin bis zu Phythotherapie haben die einzelnen Bereiche der Komplementärmedizin alle ihre eigenen Widersprüche und Probleme – und auch Stärken. Zugegeben kommen dabei unbewiesene Heilmethoden und Placebomedizin reichlich zum Einsatz. Man mag es stossend finden, dass dies obligatorisch finanziert wird. Doch man kann es nur wiederholen: Im Jahr 2009 hat der Souverän zu zwei Dritteln für eine angemessene Berücksichtigung der Komplementärmedizin gestimmt.
Statt sich bis in alle Zeiten daran abzuarbeiten, sollten sich Kritiker besser auf die wahren Kostentreiber, die unbewiesenen Heilmethoden und Placebomedizin in der Schulmedizin konzentrieren. Denn die gibt es dort ebenfalls, und zwar reichlich. Oft zu saftigen Preisen und alles andere als sanft. Als Beispiele seien hier nur ein paar Stichworte aufgezählt: Leichtfertig verschriebene Antibiotika, wenig wirksame Grippemittel, zu viele gynäkologische Abstriche, unnötige Meniskusoperationen, kaum geprüfte Implantate.
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Komplementärmedizin: Empörung ist völlig überspannt
Komplementärmedizin ist teurer als geglaubt. Die wahren Kostentreiber sind aber andere.