Kopftuch und Feministin – geht das?
Kübra Gümüsay wehrt sich dagegen, bloss als Teil eines Kollektivs wahrgenommen zu werden. Ihr Buch «Sprache und Sein» steht schon auf der Bestsellerliste.

Dies ist ein Buch von grosser Subjektivität, da darf die Besprechung einmal persönlich beginnen. Ich fahre selten Taxi, treffe aber dann fast immer auf Fahrer, die Deutsch mit Akzent sprechen. Ich frage sie gern, woher sie kommen, worauf sich oft ein interessantes Gespräch entspinnt. Zumindest war das immer mein Eindruck. Nach der Lektüre des Buches von Kübra Gümüsay muss ich in mich gehen. Könnte meine Gesprächsanknüpfung von den Fahrern nicht als übergriffig empfunden werden?
Kübra Gümüsay empfände das ganz sicher so. Sie stört sich massiv daran, immer wieder danach gefragt zu werden, woher sie «eigentlich» komme. Die Deutschtürkin, 1988 in Hamburg geboren, ist nun nicht durch ihren Akzent markiert, sondern durch ihr Kopftuch. Und das kriegen viele im Kopf nicht zusammen: eine Intellektuelle (sie hat in Oxford studiert!), die ihr Haar verhüllt. Eine gläubige Muslimin und Feministin. Also muss sich Gümüsay ständig erklären. Und nicht über sich als Person reden, sondern über Kategorien. Über – widersprüchliche – Kollektive, denen sie zugeschlagen wird.
Benannte und Unbenannte
Dabei ist schon die Frage nach dem Kopftuch eine sehr persönliche, fast intime Frage. Es gebe ebenso viele Gründe, das Kopftuch zu tragen, wie es abzulegen, schreibt sie. So vieles spielt in diese Entscheidung hinein – Religion, Herkunft, Familie, Überzeugung, politisches Bewusstsein, Zugehörigkeit, Anpassung, Trotz – und anderes. Die Antwort kann bedeuten, sehr Privates preiszugeben. Will man das gegenüber irgendeinem Frager?
Wer Gümüsays Buch mit dem etwas hochtrabenden Titel «Sprache und Sein» liest, sieht manches eigene Verhaltensmuster, manche Gedankenlosigkeit anders. Die Stärke des Buches liegt in dieser Zumutung einer anderen Perspektive und der Erschütterung der eigenen. Gümüsays Perspektive, die einer Frau und Muslimin, im Alltag mit Sexismus und Rassismus konfrontiert, wird für die Lektüre zur unsrigen. Mag man manch geschildertes Erlebnis als Mikroaggression abtun, es prägt ihre Wahrnehmung der Welt und der Position, die ihr darin zugewiesen wird.
Gümüsay teilt die Gesellschaft, in der sie lebt – eine westliche, mehrheitlich weisse Wohlstandsgesellschaft mit Rechtssicherheit und Gleichberechtigung –, ein in die «Benannten» und die «Unbenannten». Letztere sind der Standard, die Norm, Erstere die Abweichung. Den Unbenannten ist ihr So-Sein selbstverständlich. Die Benannten dagegen müssen sich ständig erklären. Woher sie kommen, warum sie so gut Deutsch sprechen, warum sie Kopftuch tragen. Und, im Fall der Muslime, wie sie zum Islam stehen.
Die Unbenannten wollen die Benannten zwar schon irgendwie verstehen, aber sie schaffen es nur, sie zu kategorisieren. Immer wieder sitzt die Autorin in Talkshows, in denen sie ausschliesslich als Vertreterin des Islam befragt wird. Hasswellen von rechts
«Wir können hier keine Frau mit Kopftuch sitzen haben, ohne dass sie über ihr Kopftuch spricht», hat eine Moderatorin gesagt. «Wenn ich, eine sichtbare Muslima, bei Rot über die Strasse gehe, gehen mit mir 1,9 Milliarden Muslim*innen bei Rot über die Strasse», schreibt Gümüsay (das Gendersprech stört, da eher diskret eingesetzt, kaum).
Was die Mehrheitsgesellschaft für Universalien hält, ist doch bloss ihre Perspektive auf die Welt. Von Minderheiten kann sie lernen, dass es sich dabei überhaupt um eine Perspektive handelt. Weiter kann sie lernen, wie es ist, Hasswellen von rechts – in den unsozialen Medien, aber nicht nur – ausgesetzt zu sein. Denn diese treffen längst nicht mehr nur Muslime oder Feministinnen, sondern etwa auch deutsche Kommunalpolitiker, also die Mitte der Gesellschaft.
Das Talkshow-Problem
Die Rechten, schreibt Kübra Gümüsay (die damit auch eine Kategorie aufmacht), zwingen uns ihre Themen auf. Warum lassen wir das zu? Von 141 Talkshows der Sender ARD und ZDF, zitiert sie eine Untersuchung, widmeten sich die Hälfte «Problemthemen» wie Migration, Islam oder Terrorismus.
Die Angst der Rechten vor den Folgen der Migration sei dabei durchaus angebracht: Einwanderer verändern das Land, und das sei gut so. Mehr Kulturen, mehr Perspektiven, weniger Selbstverständlichkeiten: Deutschland werde heterogener. Zumal die Neubürger sich nicht damit begnügen, geduldet zu sein, sondern auf ihr Recht auf Mitgestaltung pochen. (All diese Beobachtungen lassen sich grosso modo auf die Schweiz übertragen.)
«Sein»: Das ist der gewichtige, der überzeugende Teil des Essays. «Sprache» kann da nicht mithalten. Da bleibt Kübra Gümüsay vage, auch ein bisschen dilettantisch (der Unterschied von langue und parole, von Sprachsystem und Sprachgebrauch, ist ihr offenbar nicht bekannt).
Sie stösst sich daran, dass das Deutsche das Genus markiert. In einer Fussnote weist sie dann aber darauf hin, dass es diese Markierung im Türkischen nicht gibt, man daher nicht gleich weiss, ob von einem Mann oder einer Frau die Rede ist. Geht es den Frauen, sprachlich gleichgestellt, in der Türkei besser?
Über Kübra Gümüsays eigene Sprache lässt sich nur das Beste sagen: Sie ist unaggressiv und ideologiefrei, switcht elegant vom Persönlichen ins Grundsätzliche und setzt auf die Überzeugungskraft des Erlebten und Empfundenen. Mit Erfolg. Ich werde mir genau überlegen, ob ich den nächsten Taxifahrer nach seiner Herkunft frage.
Kübra Gümüsay Sprache und Sein Hanser Berlin, 2020. 190 S., ca. 28 Fr.
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