Held, dekonstruiert
Harper Lees «neuer» Roman ist eine Enttäuschung.
Am Anfang war die Überraschung, dann kam das Warten – jetzt die Enttäuschung und eine Erkenntnis. Im Februar hatte der Verlag Harper Collins angekündigt, Harper Lee, Autorin des Klassikers/Bestsellers «Wer die Nachtigall stört» lege mit 89 Jahren ein zweites Buch vor. Millionen von Lesern waren elektrisiert. Die «Nachtigall», im Original «To Kill a Mockingbird», definiert wie kein anderer amerikanischer Roman das Land und das ungelöste Problem des Verhältnisses zwischen Schwarz und Weiss.
Lee hatte «Watchman» vor «Mockingbird» geschrieben. Der Verlag lehnte das Manuskript ab, hatte aber Änderungsvorschläge, die sie berücksichtigte. Sie schrieb den Roman um, und so entstand «Mockingbird». Deshalb ist die Neuerscheinung «Watchman» eigentlich der missratene erste Entwurf des Klassikers «Mockingbird». Die amerikanischen Kritiker halten nun aber den Antihelden von «Watchman» für «realistischer» als den Atticus Finch im Original von 1960. Vor den Augen der Leser erscheint Finch also als ein dekonstruierter Held: Er ist wahrer, entspricht mehr der amerikanischen Realität und ist konsequenterweise kein Held mehr. Für den Verlag wird die Rechnung dennoch aufgehen. Hollywood machts vor mit seinen Sequels und Prequels.