Neuer Muschg-Roman: Komplizierte Schnitzeljagd
In «Kinderhochzeit» erzählt Adolf Muschg von der Suche eines Historikers nach der Wahrheit über eine badische Kleinstadt - und vieles mehr. Leider zuviel.
Es war einmal ein Schweizer Historiker, der hatte an der Arbeit der Bergier-Kommission teilgenommen. Mit deren Bericht sieht er seine Arbeit noch nicht als beendet an, besonders die Vorgänge in der Kleinstadt Nieburg im Badischen, gerade an der Grenze zur Schweiz, erregen sein besonderes Interesse. «Das Böse in Nieburg, ich möchte wissen, wo es herkam und wie man ihm widersteht», formuliert dieser Klaus Marbach sein Forschungsvorhaben.
Er reist also nach Nieburg und bekommt Wohnung und Unterstützung von Imogen Selber-Weiland, der Enkelin des Aluminiumfabrikanten Christoph Bühler. Sie hat eine Stiftung zur «Verbesserung Nieburgs» gegründet und finanziert diese aus ihrem beträchtlichen Erbe, vorzüglich auch die sieben Kuratoren, die alle zusammen (und mit ihr) die Schulbank gedrückt haben und ihren Freundesbund «Stillstand» nennen.
Sie sind allesamt Jahrgang 1940, also am Dritten Reich nicht aktiv beteiligt gewesen. Ein Foto aus dem Jahr 1949 zeigt sie alle bei einem Festumzug, bei dem sie eine Kinderhochzeit darstellen. Was aber ist mit ihren Vätern, den einstigen Honoratioren der Stadt? Hier, denkt Klaus, eröffnet sich ein dankbares Arbeitsfeld, ist Nieburg doch bisher ein «blinder Fleck» der Forschung geblieben. Doch alles kommt anders, als er - und als der Leser des Romans «Kinderhochzeit» - denkt.
Der Historiker lernt zwar die sieben Freunde kennen, befragt sie einzeln und gemeinsam, aber was er erfährt, ist nicht gerade brisant. Ihre Eltern waren keine schlimmen Nazis, sondern allenfalls Mitläufer, Nieburg war nie besonders hitler-freundlich, schickte sich eher missmutig in die neuen Verhältnisse, und sein Bürgermeister (Vater eines der Freunde) war sogar der einzige im ganzen Land, der vor und nach 1945 amtieren durfte. Allenfalls Aluminiumbaron Bühler selbst könnte man eine Nähe zu Hitler zuschreiben; er war 1923 dabei, als der künftige «Führer» bei Schweizer Industriellen für seine Ziele warb (in den Nieburger Aluminiumwerken steckte Schweizer Geld). Mit solchen Ergebnissen ist kein Staat zu machen, und so vernichtet der Historiker im Verlauf des Buches alles Material, das er bis dahin gesammelt hat, zwei Rucksackladungen Papier immerhin.
Verschlüsselte höhere Ebenen
Sein Interesse - und das des Autors - hat sich einem anderen Objekt zugewandt. Das ist der abwesende Gatte seiner Mäzenin, Iring Selber. Der war schon auf dem Kinderbild der Bräutigam von Braut Imogen, lebt aber nun seit 30 Jahren von ihr getrennt, in Berlin, wo er eine «Academy of Signs and Sense» leitet. Dieser Iring hat einen esoterischen Bestseller geschrieben, «Zeichen und Wunder», eine «Selbstwertschöpfungsmaschine, die in jede Tasche passt», und damit in den 70er-Jahren Furore gemacht.
Das Buch liegt in Klaus Marbachs Gastwohnung herum, er liest es und ist von seinem Verfasser fasziniert. Er versucht ihn aufzuspüren, in seinem Berliner Institut, dann in Görlitz, wo er Spuren hinterlassen hat und Klaus einen Bekannten mit dem schönen Namen Balthasar Nicht. Aber auch in Görlitz ist Iring nicht. Endlich finden Klaus und Balthasar ihn in Herrnhut, auf dem Sitz der Sekte «Christian Guardians»; er hat einen Schlaganfall erlitten, verharrt jetzt im «locked-in»-Zustand, kann also nur noch die Augenlider bewegen und wird von der Sektenführerin (einer Adoptivschwester Imogens) als Orakel benutzt. Allerdings überlebt er diesen Zustand nicht lange, nach seinem Tod überführt Klaus ihn heimlich nach Nieburg, damit die Sekte ihn nicht noch posthum (und «plastiniert») missbrauchen kann.
Die grossen Linien der Handlung nachzuzeichnen (es folgt noch ein etwa 100 Seiten langer Epilog, in dem Klaus mit Imogen eine Nacht verbringt und ihr dann Sterbehilfe leistet, ihre Asche in den Bergen Graubündens verstreut und sich selber in Luft auflöst), gebietet die Fairness, wenn anschliessend konstatiert werden muss, dass mir dieser Roman allzu verrätselt und verworren erscheint, um geglückt zu sein. «Lerne, das Gefundene zu betrachten als das Gesuchte», lautet zwar eine der vielen tiefsinnigen Merk- und Sinnsprüche des Buches, aber es fällt schwer, diesen Satz auf die eigene Lektüre anzuwenden.
Allzu sehr scheint der Satz auf ihn selbst zuzutreffen, den der Autor auf seine Figur Iring geprägt hat: «Er verfügte über ein Repertoire aus Zeichen, das die kleine Welt, in der wir scheinbar Handelnden uns bewegen, als Wirklichkeit aus dritter Hand erkennen liess.»
Insofern ist die oben geschilderte Handlungsebene nur zweit- oder drittrangig gegenüber einer höheren, symbolischen Ebene, die zu entschlüsseln dem Leser allerdings höllisch schwer gemacht wird. Auffällig sind zwar bestimmte Motive, die sich im Laufe des Romans widerholen: das Motiv des ungewissen Vaters etwa, Sterbehilfe oder unkonventioneller Sex. Aber es bleiben Symbole ohne Auflösung, so wie Nieburg ein blinder Fleck der Forschung bleibt.
Gewiss gibt es Erzähloasen, in denen man sich regelrecht laben kann: Die Geschichte von der Quirinus-Höhle etwa, die die Jugendfreunde entdecken und in der sie, vermeintlich als Mutprobe, den ungeliebten Iring eine ganze Nacht und einen Tag lang einsperren. Aber das sind Episoden in einer Lektüre, bei der man sich beständig fragen muss, was der Autor mit dem, was er sagt, denn wirklich meint.
So klar und analytisch, so brillant deutlich der Essayist Muschg formuliert, als Romancier hat er hier seiner Freude am verwirrenden Spiel, die Lust an der Symbolik, den Falltüren und logischen Sackgassen ungehemmt nachgegeben. Das macht den Lesevorgang zu einer Schnitzeljagd; man macht sich Notizen, um die Figuren auseinanderzuhalten, blättert vor und zurück, wenn man über Widersprüche gestolpert zu sein meint, und versucht sich den Sinn des Ganzen zusammenzureimen - ohne befriedigendes Ergebnis.
Anregende kulturkritische Passagen
Natürlich fehlt es bei einem so intelligenten Autor wie Muschg auch hier nicht an Sätzen und Absätzen, die einen geradezu jubeln lassen. Etwa der Vergleich Schweizer und deutscher Städte, geäussert von einem Nieburger: «Die Schweizer haben nun mal die Richtigkeit gepachtet, die deutsche Stadtmöblierung riecht immer nach Baumarkt auf der grünen Wiese. Nach dem Krieg haben wir unsere Städte erst richtig kaputtgemacht. Ihr Zierrat behält immer etwas von einem billigen Gebiss. Es soll nach etwas aussehen, es beisst auch ganz tüchtig, aber lächeln kann es nicht.» Oder diese: «Heimat. Klaus wusste, er würde sie nie wiedersehen, und es war ihr Verschwinden, das sie uneinnehmbar machte» - das ist auf dem Niveau des berühmten Diktums von Ernst Bloch über dasselbe Thema.
Es gibt eine hochkomplexe und anregende Auseinandersetzung mit Shakespeares seltsamem und selten gespieltem Stück «Cymbeline». Es gibt kulturkritische Passagen, in denen Muschg, der Intellektuelle, zu hören ist. «Die neue Pest ist der Überfluss, auch an sogenannter Information. Sie müsste gründlich verknappt werden, und Bildung müsste heissen: Wie bringt man Menschen bei, sich aus fast nichts ganz viel zu machen. Wer das nicht gelernt hat, der macht sich aus allem gar nichts mehr. Die Wissensgesellschaft weiss immer weniger, denn woher soll sie wissen, was wissenswert ist?» Aber diese Passagen wirken wie Dreiklänge in einem atonalen Hörstück.
Auch die Liebesgeschichten des Romans - die von Iring und Imogen, die von Imogen und Klaus - sind subtil angetönt und intelligent ausgestattet, aber zu subtil und zu intelligent, als dass man daraus klug wird. Es gibt offenbar eine romaneske Intelligenz, die zur Verschrobenheit führen kann. Denn dies ist, bei allem Respekt: ein verschrobener Roman. «Natürlich schrieb er für Menschen, die glaubten, sie hätten einen siebenten Sinn», heisst es über Iring. Einen sechsten mindestens braucht man auch für diesen Roman, und nicht alle Leser - und auch nicht alle Kritiker - haben ihn.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch