Von Nazis, Juden und Italienerinnen
«Diesseits der Grenze» schildert Schicksale von Einwanderinnen und Einwanderern in die Schweiz. Anhand der Akten vor allem der Basler Fremdenpolizei entsteht ein schillerndes Bild.

«Die Wacht am Rhein» hat der Autor Gabriel Heim sein erstes Kapitel überschrieben. Und weil das Buch «Diesseits der Grenze» heisst und es um Immigranten, den Zweiten Weltkrieg und Basel geht, rechnet man mit der Geschichte verfolgter Juden und Jüdinnen. Und staunt. In der ersten von insgesamt zehn Lebensgeschichten im Buch wählt der Autor einen völlig anderen Ansatz. Wenn er vom Schicksal der Hedwig (Hetty) Baukloh erzählt, die 1931 nach Basel kam und 1949 die Schweiz wieder verliess, dann geht es um eine Frau, die den Nazis mehr als bloss zugeneigt war. Die aber bei der Reederei Neptun, wo sie acht Jahre vor Kriegsausbruch eine Stelle als Direktionssekretärin erhielt, ausgerechnet einen Juden als Chef hatte.
1000 Laufmeter Akten
Gabriel Heim hat jahrelang in den Archiven gestöbert, um diese Schicksale, die er in «Diesseits der Grenze» vorstellt, fundiert und detailreich schildern zu können. Er war zur Hauptsache im Keller des Basler Staatsarchives, wo die Akten der Basler Fremdenpolizei sich über 1000 Laufmeter erstrecken. Er hat aber überdies im Bundesarchiv Bern und andernorts recherchiert.
Was er erzählt, ist oft herzzerreissend. Weniger die Geschichte der Hetty Baukloh. Sie war eine Verblendete, die stets an die Herrenrasse und die Überlegenheit der Deutschen glaubte. Als der Krieg zu Ende war und man sich diesseits der Grenze daran machte, mit den Nazis aufzuräumen, sie möglichst alle heim ins Reich zu expedieren, wehrte sie sich mit Händen und Füssen. Viel Sympathien darf sie vom Leser und von der Leserin nicht erwarten.
Lupovici ergattert ein Engagement beim Circus Knie - und verliebt sich dort prompt in Eliane Knie.
Anders sieht es bei den beiden staatenlosen Artisten Richard und Siehe Lupovici aus. Oder beim erst 16-jährigen Juden Harry Gabriel, oder beim Spanier Carlos Reyes y Esteban Marti. Sie alle kämpfen gegen Widerstände, Widersacher, widrigste Umstände. Siehe Lupovici, Sohn von Richard, ist ein begnadeter Jongleur, ein Künstler. Seinem Vater und ihm wird schliesslich der Aufenthalt gewährt. Siehe Lupovici ergattert ein Engagement beim Circus Knie - und verliebt sich dort prompt in Eliane Knie. Eine Alliance, die von der Dynastie gar nicht gerne gesehen wird.
Harry Gabriel gelingt 1942 eigenständig die Flucht von Berlin bis Weil am Rhein, geht zu Fuss der Bahn entlang über die Grenze nach Basel. Er schafft es aber in den paar Jahren des Krieges, die er hier - in relativer Sicherheit - verbringt, immer wieder, die Behörden zu düpieren. Immer neue Massnahmen werden gegen den Teenager ausgesprochen. Er lernt die verschiedensten Seiten und Orte der Schweiz kennen und bricht immer wieder aus, haut ab, rebelliert. Doch er überlebt und wandert nach Israel aus.
Bordell und Anlaufstelle
Der Spanier Carlos Reyes y Esteban Marti betreibt in Basel zuerst eine halbwegs seriöse Weinstube am Barfi die Polizeispitzel stellen jedoch schon dort fest, dass er wohl «Dirnen» als Personal hat. Nach dem Umzug in den «Gasthof zur Sonne» an der Rheingasse 25 ist das dann offensichtlich. Reyes beschäftigt Animierdamen, sein Etablissement ist Bordell, zugleich aber willkommene, erste Anlaufstelle für in Basel gestrandete Juden. Weil Reyes beste Kontakte zu Jules Goetschel unterhält, seinem Anwalt, Bruder von Alfred Goetschel, Präsident der Jüdischen Gemeinde Basel, erhält er Schützenhilfe, falls nötig. Reyes ist Analphabet, aber das merkt hier lange kein Mensch.
Es sind Lebensgeschichten weit ausserhalb der Norm, von denen Gabriel Heim berichtet. Und es ist gut, hört er mit dem Studium der Akten nicht nach 1945 auf, denn auch was in den Jahren nachher geschah, ist Stoff zum Staunen. In den letzten drei Kapiteln des Buches geht es um die ambitionierte Gertrud Vecellio, die im «Hotel Drei Könige» recht skrupellos nach Nazi-Manier die Fäden zog, um Paul Wollenberger und dessen Sohn Werner, den berühmten Texter und Drehbuchautor und schliesslich um Lala, die Italienerin, die in Zürich das Kindermädchen von Gabriel Heim wurde.
Da erfährt man unter anderem etwas über die sanitarischen Grenzkontrollen. Die Demütigung, die die jungen Italienerinnen in Chiasso erfuhren, wenn sie sich nackt untersuchen lassen mussten. Es sind die Schikanen der Schweizer, die so verräterisch sind wie ihre hartnäckigen Vorurteile.
Polizisten als Spitzel
«Diesseits der Grenze», und das ist vielleicht das Faszinierendste, besticht nicht nur durch die hervorragend erzählten Lebensgeschichten, sondern durch all das, was man darüber hinaus erfährt. Indem Heim oft in längeren Passagen eins zu eins zitiert, erhält man ein Gefühl für die Jahre und Jahrzehnte, die er beschreibt: Durch die Sprache, die Wortwahl, den Tonfall. Wie die Basler Fremdenpolizei laufend Erkundigungen einholte, Polizisten als Spitzel einsetzte, und ständig auch mit allerlei Denunzianten zu tun hatte, ist verwunderlich. Gut, erfährt man das.
Es ist fast schon die amerikanische Art, historische Fakten mit einer Spur Literatur zu verbinden, die Heim mit diesem Buch gelingt. An wenigen Stellen interpretiert oder spekuliert er. Aber diese Stellen sind als solche immer klar erkennbar. Denn es soll keinen Zweifel daran geben, dass es sich um echte Geschichten handelt. Um noch einmal auf Hetty Baukloh zurückzukommen: Sie könnte eine Figur aus einem Roman sein.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch