Im Terror der Bescheidenheit
Güzin Kar darüber, wie und wann man bescheiden sein sollte – oder eben nicht.

Letzte Woche erschien ein Kommentar in der NZZ, worin der Autor mehr Bescheidenheit forderte, als Wunsch an die Gesellschaft. Roger Federer sei zurzeit der Einzige, der echte Bescheidenheit an den Tag lege.
Federer als Beispiel für Bescheidenheit zu nennen, ist ungefähr so sinnvoll, wie wenn man die britische Queen als Vorbild für würdevolles Altern heranziehen würde. Ausgestattet mit demselben Vermögen und dem Beraterstab im Umfang einer Kleinstadt, könnte jeder Mensch in Würde altern und dabei bescheiden wirken, was nicht gegen die Queen oder Federer spricht, aber gegen die Verwechslung von Attitüde und Charakter. Und gegen jene bigotte Haltung des Mittelstandes, die Bescheidenheit als Gebet gegen die eigene Ohnmacht in einer neoliberalen Ordnung propagiert, in der Erfolg als Gottheit verehrt wird, man aber um keinen Preis auffallen soll. Zara-Gründer Amancio Ortega, einer der reichsten Männer der Welt, wird dafür bewundert, dass er in einer Spelunke zu Mittag isst. Solange die Attitüde stimmt, schöpft keiner Verdacht.