Zwei Videozauberer gehen auf Zeitreise in die Kindheit
Mit dem Film «Son of Rambow» holten Garth Jennings und Nick Goldsmith den Publikumspreis in Locarno. Das britische Duo lebt seinen unbändigen Spieltrieb nicht nur im Kino aus.
Ein Film, der die gesamte Entwicklung vom Einzeller zum zivilisierten Menschen auf drei Minuten eindampft? In der Fantasie von Garth Jennings und Nick Goldsmith ist nichts leichter als das. In ihrem furiosen Musikvideo für Fatboy Slims «Right Here Right Now» peitschten die beiden Briten schon die ganze Evolutionsgeschichte in der Dauer eines kurzen Popsongs durch.
In einem doppelbödigen Kommentar zum frenetischen Puls der Popkultur hetzt hier ein Lebewesen durch den Vita-Parcours der Erdgeschichte, während am Bildrand ein Countdown die Jahrmillionen abzählt. Das Geschöpf startet als Einzeller, verwandelt sich in ein prähistorisches Wassertier, kriecht als Reptil an Land, und am Ende dieses atemlosen Dauerlaufs sinkt es als total verfettetes Exemplar der modernen Konsumgesellschaft erschöpft auf eine Parkbank. Die Gegenwart hat uns wieder.
Solche visuellen Eskapaden hecken Jennings (*1972) und Goldsmith (*1971) auf dem Regent’s Canal in London aus. Hier, auf dem stillen Wasser, haben sie ihr Atelier, das mittlerweile auf zwei Hausboote verteilt ist: eines für grafische Arbeiten, das andere beherbergt ein Tonstudio und ein Atelier für Spezialeffekte. Nach der Kunstschule haben sie sich 1994 unter dem Namen Hammer & Tongs selbstständig gemacht, und nach zehn Jahren mit Musikvideos und Werbespots wären sie eigentlich für ihren kleinen ersten Kinofilm bereit gewesen. Doch Hollywood funkte dazwischen: Jennings und Goldsmith sollten das Kultbuch «The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy» ins Kino bringen. Also haben sie halt erst noch das galaktische NonsensAbenteuer verfilmt, mit einem Budget von 50 Millionen Dollar.
Kindliche Antwort auf «Rambo»
Für einen Bruchteil davon und ganz ohne Stars haben sie jetzt ihren kleinen Erstling nachgeholt – und damit die Piazza Grande in Locarno erobert. Der Film heisst «Son of Rambow» und handelt von zwei britischen Videobuben, die sich in den frühen 80er-Jahren mit einer VHS-Kamera in die Büsche schlagen, um ihre Antwort auf «Rambo» zu drehen. «Son of Rambow» ist eine unbeschwerte Rückblende zu den Anfängen der VHS-Welle, und für Garth Jennings war der Film auch eine Zeitreise in die eigene Kindheit. Als Primarschüler, so erzählt er, habe er sich mit Freunden heimlich eine Raubkopie von «Rambo» angesehen: «Unsere Eltern hätten das natürlich niemals erlaubt. Aber der Film hat uns weggeblasen, und so beschlossen wir damals, hinter dem Haus unseren eigenen Actionfilm zu drehen.» Da halfen sogar die Eltern tüchtig mit.
Auch in «Son of Rambow» stiftet der schlimme «Rambo» die Buben nicht etwa zu Mord und Totschlag an – er beflügelt bloss ihren filmischen Spieltrieb. Der kindliche Schreibfehler im Titel gibt die Richtung vor: Aus dem rabiaten Rambo wird fast ein englischer Regenbogen («rainbow»), seit dem «Wizard of Oz» die Chiffre fürs Kinderglück schlechthin.
So werfen Jennings und Goldsmith einen unverkrampften Blick zurück auf die Brutalo-Panik, die Eltern und Pädagogen erfasste, als die Videokassette ins Kinderzimmer kam. Auch vom Fernsehen, erzählt Jennings, habe man damals schärferen Jugendschutz gefordert. Und er erinnert sich, wie ganz England in heller Aufregung war, als «Der weisse Hai» am britischen Fernsehen schon um 19 Uhr über Sender ging. Als seine Lehrerin am andern Morgen wissen wollte, wer den Spielberg-Schocker gesehen habe, hob die ganze Klasse die Hand. Und die Lehrerin: «Ich bin entsetzt.» Ein ganz schlechtes Gewissen habe er damals gehabt, sagt Jennings. Heute gilt «Der weisse Hai» zwar nicht gerade als Kinderfilm, aber auf DVD ist er in England längst ohne Altersbeschränkung freigegeben.
Möglichst narrenfrei
Ausnahmslos jugendfrei sind auch die Clips und Filme, die sich Jennings und Goldsmith in ihrem Hausboot-Atelier ausdenken. «Im Herzen sind wir grosse Kinder geblieben», sagt Nick Goldsmith. Als sie mit Hammer & Tongs ihre eigene Firma gründeten, taten sie das, weil sie die Narrenfreiheit, die sie an der Kunstschule genossen hatten, in die Arbeitswelt retten wollten. Ihren Spieltrieb leben sie seither nicht nur im Kino und mit Werbespots aus: Das jüngste Produkt von Hammer & Tongs ist ein Musik-Download mit dem Titel «Happy on Hold». Darauf findet man elf hintersinnige Parodien auf die musikalische Belästigung, die man sich in Telefon- Warteschlaufen anhören muss.
Die schönsten Blüten treibt der Schalk von Goldsmith und Jennings jedoch auf der Musikvideo-Spielwiese. Für «Coffee & TV» von Blur schickten sie eine Milchtüte auf einen abenteuerlichen Stadtrundgang, und ihren wohl schillerndsten Clip schufen sie zu «Imitation of Life» von R.E.M. Da sehen wir das dicht bevölkerte Tableau einer Gartenparty, bei der in jeder Ecke ein kleines Schauspiel oder ein beiläufiger Slapstick zu entdecken ist. Der Clou dabei: Die ganze Szene dauert nur 20 Sekunden, doch der Clip spult ungeschnitten immer wieder zurück und zoomt nacheinander die menschlichen Dramen heran, die sich an dieser Party abspielen – und rechts unten in diesem Suchbild zappelt Sänger Michael Stipe. Das ist so raffiniert gemacht, als hätte man ein Brueghel-Gemälde fürs Videozeitalter aufdatiert.
Von den «Simpsons» geadelt
Ihren Ehrenplatz im Kanon der Musikvideoklassiker haben Hammer & Tongs damit sicher – auch dank der preisgekrönten Turbo-Evolution für Fatboy Slims «Right Here Right Now». Nick Goldsmith, der den Neandertaler im Clip gleich selbst spielte, will die höchste Ausden zeichnung dafür aber nicht von MTV empfangen haben, sondern von den «Simpsons». In einer Episode der TV-Serie wurde das Musikvideo für die Eröffnungssequenz kopiert, als Evolution des Homer Simpson.
Jetzt, nach «Son of Rambow» und dem Publikumspreis in Locarno, hegen Goldsmith und Jennings neue Bubenträume. Ihr nächstes Kinoprojekt ist ein Trickfilm, und in vier Jahren würden sie wahnsinnig gern die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in London inszenieren. Das wäre das schiere Gegenteil zum Film, sagt Jennings begeistert: «Nachbessern geht nicht. Da muss alles live passieren, und der ganze Planet schaut zu! Die Anspannung würde mich wahrscheinlich umbringen. » Und er strahlt wie ein kleiner Junge. Hammer & Tongs führen Regie bei Olympia? Die beiden wissen selbst, dass das völlig unrealistisch ist. Aber träumen geht immer.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch