Im Zeichen des Bösen
Der Tod des Rappers XXXTentacion wirft die Frage auf: Wie geht man mit einem Künstler um, dessen Werk voller Hass steckt – und doch der Soundtrack der Jugend ist?
Als XXXTentacion vor einer Woche in einem Vorort Miamis wohl zufällig Opfer eines Raubmords wurde, da schien die routinierte Trauermaschine wieder anzulaufen. So wie das immer geschieht, wenn ein Popstar stirbt und die Social-Media-Kanäle zu Trauerportalen werden. Prominente wie Kanye West und P. Diddy tweeteten ihr Beileid, man las immer wieder «R. I. P.»-Meldungen mitsamt Porträts des Erschossenen, und selbst der Streamingdienst Spotify schaltete auf der Frontseite den Banner «Rest in Peace, XXXTentacion!» Kurz, es schien wieder einmal so, dass ein Tod alles Böse, alle Schattenseiten aus einem Leben tilgen könnte.
Doch nach den ersten Beileidsbekundungen wurde es schnell komplizierter. So wie das schon vor dem Mord am gerade mal 20-Jährigen war. Denn Jahseh Dwayne Onfroy, geboren in Florida, war ein gewalttätiger Mensch, der während seiner kaputten Kindheit von Heim zu Heim, von Schule zu Schule gereicht wurde. Er schlug Frauen und Schwule, verprügelte und misshandelte später seine schwangere Freundin. Onfroy musste ins Gefängnis, kam unter Kaution wieder frei, lebte zeitweise unter Hausarrest. Ein Prozess gegen ihn war noch hängig. All diese Gewaltexzesse, die sein Leben prägten, bedeuteten nicht das Ende seiner Karriere. Sondern befeuerten sie erst – und machten ihn im letzten Jahr zum Popstar.
Emotionaler Ausnahmezustand
Man kann das alles nachlesen in einem viel beachteten Artikel in der «Miami New Times», der kurz vor dem Mord an Onfroy publiziert wurde. Welche Schmerzen, welchen Terror seine Opfer aushalten mussten, kann bei der Lektüre nur erahnt werden. Garniert ist jener Text mit Zitaten von Onfroy, die nicht von übermässigem Bedauern zeugen – im Gegenteil – und die es schwierig, wenn nicht sogar unmöglich machen, XXXTentacions Musik losgelöst von seinem Dasein zu würdigen. Zumal auch seine Tracks die Brutalität nicht kaschierten, sondern vom selben toxischen Mix getrieben waren, der immer dann explodiert, wenn die Männlichkeit bedroht ist.
XXXTentacions Tracks zeugen halt vom echten Leben, mag man nun einwenden: Neben der Gewalt erzählen sie auch von all den Verletzungen seines Lebens, von den Depressionen, von den Albträumen, von Suiziden seiner Freunde. Hier glänzt nichts, nicht die Raps, schon gar nicht die zusammengehusteten Beats und Sounds, die er in die digitalen Wolken hochgeladen hat.

Gemeinsam mit seinem Gegenspieler Lil Peep, der im vergangenen November mit nur 23 Jahren an einer Überdosis der Schmerztabletten Xanax gestorben ist, wurde XXXTentacion mit seinem tätowierten Gesicht zur Ikone einer zernarbten Musik, die man wegen des ursprünglichen Vertriebskanals Soundcloud-Rap nennt. Und die mehr mit den emotionalen Ausnahmezuständen der verschiedenen Emo-Stilrichtungen aus den Nullerjahren als mit irgendeiner klassischen Hip-Hop-Spielart zu tun hat. Als XXXTentacions Album «?» im März erschien, landete es gleich auf dem ersten Platz der amerikanischen Billboard-Charts. Die Tracks wurden hundertmillionenfach gestreamt.
Dieser phänomenale Erfolg brachte die Popkritik an ihre Grenzen. Muss man über XXXTentacions Musik überhaupt berichten, fragten sich US-Medien? Ja, durfte man diesen Soundtrack der unverstandenen, oftmals unterprivilegierten Jugend überhaupt erwähnen, oder trägt man mit ihrer Problematisierung nur noch zur Mehrung der Popularität bei? Es ging in dieser Debatte – anders als jene, die zur selben Zeit im deutschen Sprachraum über die antisemitischen Ausfälligkeiten von Kollegah und Farid Bang geführt wurde – nicht um Grenzüberschreitungen. Auch nicht um Kunstfreiheit. Denn Misogynie, Homophobie und Gewalt sind seit Ewigkeiten Teil der Popmusik und der dazugehörigen Groupiekultur und sind noch immer weitherum akzeptiert. Und dies nicht nur im Hip-Hop, auf den so viele Finger stets reflexhaft zeigen.
Das Neuartige an der Diskussion um XXXTentacion war aber die Frage: Wie viel Platz räumt man einem Popphänomen ein, bei dem die Grenzen zwischen Leben und Werk nicht mehr existieren? Bei dem man um die unentschuldbaren Übergriffe im privaten Dasein, das in der Social-Media-Gegenwart so privat auch nicht mehr ist, weiss?

Der Streaminggigant Spotify nahm seinerseits Stellung und strich die Tracks von XXXTentacion von den eigenen, sehr populären Playlists. Wegen «besonders schändlicher oder hasserfüllter Taten», die der Künstler begangen hat, hiess es. Diese Massnahme – die keine Zensur, sondern bloss keine aktive Bewerbung der Musik mehr bedeutete – traf auch den Soulsänger R. Kelly, der seit Jahren des sexuellen Missbrauchs verdächtigt wird. Auf eine entsprechende Anfrage der «New York Times», wie denn XXXTentacion die Verbannung seiner Musik beurteilt, schrieb sein Management zurück, warum denn Spotify nicht auch Musiker wie Gene Simmons von Kiss, die Red Hot Chili Peppers, David Bowie oder Jimmy Page bestrafe – alles Künstler, denen in ihren frühen Karrierejahren sexuelle Verfehlungen und Übergriffe nachgesagt werden. Und warum fehlt eigentlich Chris Brown, der Rapper, der seine damalige Freundin Rihanna brutal verprügelte?
Der willkürliche Versuch des Streamingdienstes, sich als moralische Instanz aufzuspielen, wurde dann ad absurdum geführt, als verschiedene Labels und Künstler wie Kendrick Lamar androhten, ihre Musik vom Streamingdienst zurückzuziehen. Wegen der Verbannung von XXXTentacion. Spotify krebste in seinem Fall zurück und platzierte nach dem Tod nicht nur den Trauerbanner, sondern auch Songs wie «SAD!» auf den obersten Plätzen der «Rap Caviar»-Playlist, die fast zehn Millionen Follower hat. Das Geschäft ist dann doch noch immer wichtiger als die Moral.
Musikfans hätten die Wahl
Spotifys begrüssenwerter Schritt, gewalttätige Musiker nicht mehr zu unterstützen – so unbeholfen die Ausführung auch anmutete –, zeigt aber, dass selbst Popmusiker, die lange Zeit unantastbar wirkten, nicht mehr unberührt bleiben von der #MeToo-Debatte. Dass übergriffiges Verhalten, Fälle von häuslicher Gewalt und sexueller Missbrauch nicht mehr unbemerkt bleiben, wie auch die Diskussion um XXXTentacions Tod zeigt.
Dabei geht es nicht um eine moralische Säuberung der Musik – hin zu einer keimfreien Popwelt, in der alles Rebellentum und jedes Fehlverhalten per se verdächtig sind. Und in der das Böse, das auch ein voyeuristisches Interesse befriedigt, gänzlich ausgemerzt wird. Es geht bloss darum, dass man Musiker, die Frauen und Schwule verprügeln, nicht mehr aktiv fördern und mit millionenschweren Verträgen ausstatten sollte. «Man muss keine Musik von übergriffigen Rappern hören», hiess ein Artikel, der nach der Veröffentlichung von XXXTentacions «?» erschienen ist. Denn ja, die Musikfans haben eine Auswahl, die heute grösser ist denn je zuvor.
Die Fans von XXXTentacion nehmen derweil weiter Abschied. Nicht mehr nur via Social Media, sondern sie legen Blumen nieder am Tatort in Südflorida. Und liefern sich in Los Angeles mit der Polizei eine Strassenschlacht. XXXTentacion hätte dies gefallen.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch