Interview mit Lawrence Weiner«Kunst ist das Ehrlichste, was es gibt»
Lawrence Weiner, einer der wichtigsten Künstler seiner Generation, wurde 2015 in Zürich mit dem höchstdotierten Kunstpreis Europas, ausgezeichnet. Bei einer Tasse Kaffee erzählte er uns damals, was er mit seiner Kunst bewirken wollte.

«You don’t need a soundcheck?», fragt eine extrem tiefe Stimme. «Ein, swei, drei, via, funf, zeck, zieben ...» Sieh an. Wie weit könnten Sie denn auf Deutsch weiterzählen, lieber Lawrence Weiner? «Oh, I could go all the way.» Und dann: «Un, deux, trois, quatre ...», es kommt auf Französisch und auf Holländisch.
Aber es geht hier nicht darum, rudimentäre Sprachkenntnisse auszubreiten. «Hören Sie die unterschiedlichen Klangfarben der verschiedenen Sprachen? Wenn ich einen Film drehe, checke ich im Vorfeld jeweils die Tonqualität anhand der verschiedenen Sprachen. Klingt da alles gut, erlebst du später keine bösen Überraschungen. Aber», fügt er an, «heute machen wir es nach Ihren Regeln. – Eine Bitte nur», tönt es durch den Rauschebart hindurch. «Entschuldigen Sie sich im Gespräch für nichts.»
Da weiss einer um die Autorität, die er ausstrahlt, trotz seines bescheidenen Auftretens. Lawrence Weiner, 73 Jahre alt, gehört zum Unterrichtsstoff jedes Kunststudenten. Da kann man als Vis-à-vis schon mal ins Stottern geraten.
Kunst müsse aus Wut entstehen, sagten Sie mal. Ihre Werke scheinen mir aber nicht sehr wutgeladen.
Ich will ja niemandem den Tag versauen, indem ich ihm meinen Unmut ungefiltert vor den Latz knalle. Lieber bearbeite ich ihn subtil, indem ich ihm einen Gedanken einimpfe, der mit der Zeit seine Wirkung entfaltet. Du musst nicht mit ’nem Pflasterstein in der Hand durch die Strassen rennen, um zu protestieren. Du schickst etwas in die Gesellschaft hinaus und hoffst, dass es die Leute erreicht. Sie müssen nicht deiner Meinung sein, aber wenn sie bereit sind, ihre Denkweise zu ändern, weil sie dich verstehen wollen, dann hast du als Künstler deinen Job gut gemacht.
Wo kommt aber nun Ihre Wut her?
Lesen Sie Zeitung? Ist es Ihnen möglich, die ersten zwei Seiten zu überfliegen, ohne sich zu schämen, ein menschliches Wesen zu sein? Nehmen Sie die USA: Da gibts tatsächlich Leute, die ein Problem damit haben, dass ein Schwarzer im Weissen Haus residiert.
Und was kann die Kunst dagegen ausrichten?
Sie ist eine der wenigen Dinge, die keine Wertungsstruktur in sich tragen. Und sie hat Vorbildfunktion: Wenn ein Mensch einem behauenen Stück Fels Respekt entgegenbringen kann, dann muss es doch auch möglich sein, diesen Respekt auf die Würde anderer Menschen auszuweiten.
Sie bezeichnen sich als Bildhauer, obwohl Sie vor allem mit Sprache arbeiten. Sind Sie nicht eher Poet?
Kein bisschen. Poesie geht virtuos mit Sprache um. Ich bin mehr der Mann fürs Grobe. Meine Sätze beschreiben Dinge oder Begebenheiten, that’s it. Da gehts nicht um die Seele, sondern um einen Tisch, einen Stein, um die Kraft des Wassers. Und weil ich die Worte, aus denen meine Werke bestehen, letztlich auf ein physisches Objekt anbringen muss – eine Mauer, ein Schiff, einen Gullydeckel –, kommt am Schluss immer eine Skulptur dabei raus.


Am Zürcher Bellevue haben Sie 2007 die Worte BALL BEARINGS OR
ROUND STONES / MADE TO ROLL / OUTSIDE OF WHAT THERE IS in den Betonboden eingelegt.
Ich bin sehr stolz auf dieses Stück. Jetzt, inmitten der Baustelle, funktioniert es sogar noch besser.
Was soll das eigentlich bedeuten?
Genau das, was dort steht. Wir leben in einer Zeit, in der wir täglich mehr über die Welt da draussen erfahren. Jeden Tag weiten sich deine Ideen aus. Je mehr du weisst von der Welt, desto mehr veränderst du dich, desto weiter rollst du. Also: Wir Kugellager, wir runden Steine rollen ausserhalb von dem, was ist.
Wie kommen Sie auf solche Ideen?
Schauen Sie sich diese Kaffeetasse an. Wenn ich morgens in mein Studio komme, schaue ich mir die Beziehung zwischen dieser Tasse und der Untertasse an. Wenn mir etwas dazu einfällt, kommt eins zum andern. Es ist schwierig, zu erklären, wie unglaublich simpel die Entstehung von Kunst ist. Du fängst irgendwo an, befragst es immer wieder, und plötzlich ist es fertig. Und du hast gesagt, was du zu sagen hattest. In Zürich bin ich damals auf Kugellager gekommen, weil da all diese Trams herumrollten. Ausserdem gefiel mir die Vorstellung, dass ein Kind auf Rollschuhen ebenso Kugellager nutzt wie die riesengrossen Schiffsmotoren auf dem See, das hat so etwas Demokratisches. Dann suchst du nach den richtigen Worten und nach dem Material, das zu den Worten passt, bringst es unter die Leute und hoffst, dass sie es kapieren. Und wenn nicht, hast du immerhin gesagt, was du wirklich denkst. So gesehen, ist Kunst das Ehrlichste, was es gibt.
Wie lange dauert dieser Prozess?
Das kann Tage dauern oder auch Monate. Da gibt es keine Regel. Gäbe es sie,
hättest du ein System. Und bei der Kunst gehts nicht um Systematik.
«Es ist schwierig, zu erklären, wie unglaublich simpel die Entstehung von Kunst ist. Du fängst an, plötzlich ist es fertig.»
Sondern?
Darum, sich Zeit zu nehmen, etwas zu verstehen. Zeit ist die kostbarste Sache überhaupt. Die meisten Menschen haben zu wenig Zeit, weil sie permanent arbeiten müssen, um zu überleben. Der Künstler aber hat das Glück, seine Zeit damit zu verbringen, etwas so lange anzusehen, bis er etwas darüber erfährt, was man noch nicht wusste. Und das teilt er dann mit den Mitmenschen.
Und die nehmen das auf, indem sie darüber hinweglaufen wie am Bellevue oder bei Ihren Gullydeckeln in Manhattan?
Wieso denn nicht? In einer Grossstadt schaut niemand hoch zu den Sternen. Alle schauen auf den Boden, weil sie drauf achten müssen, nicht in Scheisse reinzutreten. Also ist das der Ort, um Kunst anzubringen.
Ein Lachen, dann ein tiefer, röchelnder Husten. Spuren der unzähligen Selbstgedrehten. Dort zu rauchen, wo es jemanden stören könnte, fiele Lawrence Weiner nicht im Traum ein. Das hat nichts mit eingefleischten amerikanischen Raucherregeln zu tun; ohnehin sieht sich Weiner nicht als Amerikaner, sondern als Weltbürger, auch wenn er das natürlich nie so schwülstig formulieren würde. Vielmehr ist alles an diesem Mann Zurückhaltung. Nichts drängt sich auf, schon gar nicht sein Humor.
Wenn er scherzt, dann mit unbewegter Stimme; wenn er spricht, streut er Derbheiten ein, als müsse er das Intellektuelle nivellieren. Klug ist dieser Mann und mit sich im Reinen. Nimmt man den Rauschebart hinzu, ist es fast unmöglich, dass einem das Wort «Guru» nicht durch den Kopf schiesst. Nur die groben Cowboystiefel lassen erahnen, dass dieser Mann nichts mit Metaphysik am Hut hat.
Kunst soll nicht predigen und schon gar nicht bekehren. Und wenn Weiner an etwas glaubt, dann an die Pragmatik im Hier und Jetzt.
Warum gibt es bei Ihren Werken eigentlich keine Plaketten, die Sie als Urheber des Werks auszeichnen?
Weil die Werke auch ganz gut ohne auskommen. Kunst ist dann gut, wenn sie unmissverständlich zum Ausdruck bringt, was die Person, die sie gemacht hat, der Welt mitteilen wollte. Ohne dass der Betrachter etwas über den Urheber und dessen kulturellen Hintergrund wissen muss.
Kennen Sie den Kunstkompass?
Sie meinen diese Liste mit den wichtigsten lebenden Künstlern? Ich bin so lange in diesem Business dabei, dass ich das Ding schon ein paar Mal hoch- und wieder runtergeklettert bin.
«Ich habe stets versucht Kunst zu machen, die nicht missbraucht werden kann.»
Momentan stehen Sie auf Platz 17.
Gar nicht so übel, oder? Aber wissen Sie, was? Das bedeutet mir nichts. Ausser dass ich das Privileg habe, meine Werke in der Welt platzieren und damit die Miete bezahlen zu können. Wer ist eigentlich aktuell auf Platz eins? Gerhard?
Gerhard Richter, genau. Was sagen Sie zu den astronomischen Preisen, die für seine Kunst gezahlt werden?
Warum sollten Künstler kein Geld verdienen? Nein, im Ernst. Ich verstehe den Markt nicht und versuche, bei meinen Preisen Bodenhaftung zu behalten. Nennen Sie mich ruhig naiv.
Das Gros der Künstler in den Top 20 unterrichtet an einer Akademie. Sie nicht. Warum?
Weil es in der Lehre darum geht, Antworten oder zumindest Lösungsansätze zu vermitteln. Ich bin besser im Fragenstellen. Ausserdem musst du als Didakt Autorität ausüben, und ein Künstler sollte alles sein, nur nicht autoritär.
Wieso altert Ihr Werk so gut?
Vielleicht weil das, was ich den Leuten mitteilen will, universeller ist als das, was sie üblicherweise von Kunst erwarten. Vielleicht auch, weil ich stets versucht habe, Kunst zu machen, die nicht missbraucht werden kann. Und ich glaube, es ist tatsächlich schwierig, mein Werk für etwas Sexistisches oder Rassistisches zu missbrauchen. Mehr kann ich nicht tun.
Paulina Szczesniak ist Redaktorin beim «Tages-Anzeiger» und bei der «SonntagsZeitung». Die studierte Kunsthistorikerin und Anglistin schreibt hauptsächlich über Kunst und Gesellschaftsthemen.
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