Auvergne: Viel mehr als nur ein Paradies für Pilger
Das grüne Herz Frankreichs ist eine beliebte Destination für Pilger. Nebst den Wanderwegen bietet die Auvergne vulkanische Berge, spektakuläre Schluchten und gutes Essen.

Der Flughafen von Clermont-Ferrand wirkt gespenstisch leer, als wir mit einer Stunde Verspätung aus dem Flugzeug steigen. Kein Betrieb vor den Docks, keine Menschen in den Gängen und vor allem kein Empfangskomitee in der Halle. Der Mann vom Informationspult schaut uns an, und bevor wir «Bonjour» sagen können, meint er: «Vous devez être les Suisses retardés», steht auf und eilt ins Café hinüber. Nach zwei Minuten ist er mit unseren Leuten zurück. Willkommen in der Provinz.
Vulkane und Mystik à la Tolkien
In der Auvergne scheint Paris tatsächlich weit weg zu sein. Das Tempo ist gemütlich, die Leute sind herzlich und hilfsbereit. Die abwechslungsreiche Landschaft bietet Berge, Seen, Schluchten, eigentlich alles ausser dem Meer. Das hübsche Städtchen Clermont-Ferrand, 300 Kilometer westlich von Lyon gelegen, Verwaltungssitz der Region, die vier Départements, Puy-de-Dôme, Allier, Haute-Loire und Cantal, umfasst, lassen wir links liegen. «Hübsch, aber im Vergleich mit unserer Natur banal», meint der holländische Fahrer und sticht direkt in die Landschaft, die sich hinter dem Flughafen ausbreitet.
Nach einer Stunde Fahrt, während der uns vor allem der omnipräsente gelbe Ginster ins Auge sticht, taucht der berühmte Puy Mary auf. Trotz des Nieselregens steigen wir auf zum Gipfel. Mit seinen 1783 Höhenmetern ist er der zweithöchste Berg im Zentralmassiv, dem grössten vulkanischen Gebiet Europas. Der Weg hinauf wurde als gerader Strich zur Krete angelegt und mit komfortablem Beton gepflastert. Trotzdem: Es ist verdammt steil! Das Herz pocht, der Atem stockt, der Schweiss fliesst – für all diese Mühen werden wir oben mit einem einzigartigen Ausblick auf die mit Moos überwachsenen Grate der vulkanischen Felsen entschädigt. Inzwischen hat es aufgehört zu regnen, letzte Nebelschwaden hangen im luftleeren Raum unter uns, am Horizont zeigt sich keck ein Regenbogen – man wähnt sich im Vogelflug über Tolkiens Auenland.
Truffade und «Monsieur Blingbling»
Am Abend halten wir in Pailherols, einem kleinen Bergdorf mit stämmigen Granithäusern. Mittlerweile haben wir – so scheint es uns zumindest – die zwei grossen Leidenschaften der Auvergnois ausgemacht: das Wandern und das Essen. In der Auberge des Montagnes begegnen wir der ersten. Dass das Essen eine so wichtige Rolle spielt, liegt auf der Hand – die Landwirtschaft ist nach wie vor einer der wichtigsten Wirtschaftszweige dieser Region; ihre Erzeugnisse wie der Fin gras du Mézenc, das schwarze Lamm von Velay, die Linsen von Puy, das Fleisch der Vaches de Salers oder die vielen unterschiedlichen Rohmilchkäse sind im ganzen Land hochbegehrt.
In der romantischen Auberge, deren Dekor an Hänsel und Gretel (aber ohne Hexe) denken lässt, werden diese Produkte nach klassischer Manier zubereitet und zusammen mit anderen Spezialitäten der Region serviert. Nach einer ausgezeichneten Forelle im Blätterteig dürfen wir das berühmte Salers-Fleisch probieren – dazu gibts Truffade, eine Spezialität, die aus Kartoffeln und frischem Tomme besteht. Gut aber schwer! Zum Glück ist das Tischgespräch umso leichter. Thema sind Gott und die Welt oder genauer: Sarkozy und die Welt. «Le Président Blingbling», wie die Franzosen ihn nennen, geniesst im Volk weder Vertrauen noch Sympathien, als Zielscheibe für den bissigen Humor seiner Untertanen ist er dafür umso beliebter.
Am nächsten Tag hängt der Himmel immer noch voller Wolken, als wir Richtung der Domaine du Sauvage bei Chanaleilles losmarschieren. Das Gut wurde vor 800 Jahren auf dem Hügel der Margeride errichtet, des Massivs aus Granit, das vor allem seiner sanften Hügel wegen bekannt ist. Seit jeher bietet es den Pilgern auf dem Weg nach Compostela Schutz vor Wind und Wetter. Lange gehörte es dem Orden der Templer, bis der Staat es aufkaufte. Heute ist es an einen Bauern verpachtet, der den Pilgern zwei Gebäude überlässt. Diese wurden erst kürzlich renoviert – sehr sanft und, wie Xavier Conte, der Verantwortliche für das historische Erbe der Haute Loire, betont, «ganz im Sinne und Geist des St-Jacques». Der Gast schläft nach wie vor in einem Massenlager, muss sein Essen selber kochen und sucht vergeblich nach einem Internetanschluss.
Für die Zukunft sind kleine Änderungen geplant, die den speziellen Bedürfnissen der Pilger entgegenkommen sollen: kleinere Zimmer für Paare oder Familien, ein Restaurant sowie ein kleines Geschäft, in dem das Nötigste wie Esswaren und Verbandsmaterial verkauft werden soll. «Aber das», sagt Conte, «ist Zukunftsmusik – in Bezug auf den St-Jacques gibt man sich hier konservativ.»
Der sehr heilige St-Jacques
In der Auvergne dreht sich viel um den «St-Jacques», wie die Einheimischen den berühmten Weg, der sich 134 Kilometer lang durch die Haute Loire schlängelt, salopp nennen. Der heilige Weg, der uns Schweizern mit der Etappe von Genf nach Puy-en-Velay direkt mit der Auvergne verbindet, hat die Einwohner dieser Region geprägt. Vor allem in den letzten Jahren, seit das Pilgern ein regelrechtes Revival erlebt und sich die Zahl der Marschierer pro Jahr mehr als vervierfacht hat. Das Wandern ist hier weit mehr als eine gesunde Nebenbeschäftigung. Die Bewohner der Region sind ihm richtig verfallen, und es ist längst zur wichtigen Einnahmequelle geworden. Für uns hat dies viele Vorteile: Es ist eine breite Palette an Dienstleistungen entstanden, wie etwa ein Rucksacktransportservice oder eine Routenplanung samt Hotelbuchungen.
Wer keine Lust auf den historisch verbürgten, aber doch eher frugalen Jakobsweg hat und trotzdem gerne wandern möchte, für den gibts schier unbegrenzte Möglichkeiten. Gourmets werden mit Pilz-, Linsen- oder Käsewegen durch die Landschaft gelockt, Botaniker und Ornithologen mit entsprechenden Promenaden – und selbst wer lieber mit dem Velo als zu Fuss unterwegs ist, kommt auf seine Kosten. Für einige Wanderrouten wie den 252 Kilometer langen «Chemin de Stevenson », der Le Monastier-sur-Gazeille mit Saint-Jean-du-Gard verbindet, braucht es Wochen. Andere, wie der Spaziergang «Linsen und Vulkane», hat man in weniger als einer Stunde abgewandert.
Puy-en-Velay – die vulkanische Stadt
Rund um den Stadtkern von Puy-en-Velay erheben sich dunkle, vulkanische Hügel. Für Reisende mag dieser Szenerie etwas leicht Bedrohliches anhaften, die Einheimischen aber fühlen sich in ihrem Kessel sichtlich wohl. Auch dank Schutz von oben: Auf einem der erloschenen Vulkankegel wacht eine 16 Meter hohe Marienstatue über die Stadt und ihre Einwohner.
Das katholische Erbe ist auch weiter unten im Stadtkessel omnipräsent. Die Kathedrale, ein imposantes, dunkles Bauwerk, um dessen Herz sich in den letzten tausend Jahren immer neue Schichten gelegt haben, ist ein Muss auf dem Weg nach Compostela.
Heute schreiten die meisten Pilger in bunter Sportbekleidung und auf festen Wanderschuhen durch die steile Rue des Tables auf den Haupteingang zu. Das war nicht immer so: Bis vor 100 Jahren krochen die Pilger auf den Knien über die Pflastersteine, vorbei an den vielen Verkaufstischen der Händler, die aus dem ganzen Land hierherkamen, um ihre Ware zu verkaufen. Je näher an der Strasse, desto teurer die Platzmiete.
Am Tag unseres Besuchs ist die Stadt ruhig. Vor dem Hôtel de Ville bittet ein Plakat um die Freilassung Ingrid Betancourts, an der Place du Plot füllen ein paar Pilger ihre Flasche mit «heiligem Wasser» aus dem 800-jährigen Brunnen, und am gegenüberliegenden Strassenrand werden Klöppelarbeiten angeboten – eine weitere Spezialität der Stadt. Vom Platz aus führen die Strassenzüge sternförmig zur Kathedrale hinauf. Je mehr man sich den heiligen Stätten nähert, desto feudaler die Bauweise. Leider nimmt man von der Strasse aus nur einen Bruchteil dieser Pracht wahr: Die meisten Häuser sind mit der Rückseite zur Strasse hin gebaut, die schöne Seite, auf die unzähligen Innenhöfe hinaus, bleibt uns verborgen.
Ausser man besucht ein Restaurant. Wir entscheiden uns für Le Brivas. Das Lokal liegt zwar nicht in der Innenstadt, sondern auf dem Hügel oberhalb der Stadt, dafür hat man von seiner Terrasse aus einen tollen Ausblick. Die Gaststube befindet sich im Erdgeschoss des traditionellen Steinhauses. Der grosszügige Raum mit den roten und taubengrauen Wänden strahlt Leichtigkeit und Modernität aus, zwei Eigenschaften, die wir auch auf dem Teller wiederfinden. Thomas Emblards Gerichte sind nicht nur ein interessanter Kontrast zur ländlichen Küche, die wir bisher probieren durften, sondern auch ein würdiger Abschluss einer schöne Reise durch das grüne Herz Frankreichs.
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