Locavores – die Lokalfresser kommen
Sie essen nur, was möglichst nah von ihrem Wohnort produziert wurde: Die «Locavores» tun das der Umwelt zuliebe - und dem Geschmack.

Vier Jahre ist es her, seit sich an einem strahlenden Frühlingstag Menschen aus den USA im Hafenquartier von San Francisco versammelt hatten. Der damaligen Bush-Regierung zum Trotz suchten sie unter der kalifornischen Sonne nach neuen Ideen und Konzepten, um der Klimaerwärmung entgegenzuwirken.
Unter den kritischen Geistern waren vier junge Frauen - zwei Köchinnen, zwei Medienschaffende - die eine so naheliegende wie provokative Idee hatten: Um die CO2-Emissionen zu senken, sollten die Menschen nur Nahrungsmittel essen, die in einem Umkreis von 100 Meilen (160 Kilometer) gewachsen und produziert worden waren. Sie nannten sich Locavores und wiesen auf die Vorteile ihrer Idee hin: Äpfel, Randen, Käse und Fleisch aus der Umgebung sind dank kurzen Transportwegen nicht nur frischer, vitaminreicher und gesünder, sondern schonen auch den Planeten.
Das Konzept, das mittlerweile Distanzen bis zu 240 Kilometer toleriert, fasst schnell Fuss. 2007 wird der Begriff «Locavores» vom «Oxford America Dictionary» zum Wort des Jahres gewählt; die Gründerinnen jubeln, die Bewegung findet immer mehr Anhänger. Im New Yorker Stadtteil Brooklyn brechen Menschen den Asphalt der Basketballfelder auf, um Salat, Spargeln und Kürbisse zu kultivieren. Das Grossstadtgemüse wird mit dem Elefantenkot aus dem benachbarten Zoo gedüngt. Mitten in Manhattan hält David Graves auf seiner Dachterrasse Bienenstöcke und schwärmt von seinem hausgemachten Knöterichhonig. Er und seine Nachbarn träumen von Dachgärten und dem «urban farming», während Michelle Obama auf einer Terrasse des Weissen Hauses einen Gemüsegarten anlegen lässt.
Bio könnte in die zweite Reihe treten
Die steigenden Öl- und Agrarpreise, die zunehmenden Umweltbelastungen oder die wiederkehrenden Meldungen von Lebensmittelskandalen tragen dazu bei, dass immer mehr Menschen wissen wollen, woher ihr Essen kommt. Die Locavores-Bewegung fällt auf einen fruchtbaren Zeitgeistboden. Sie könnte den Bioboom in die zweite Reihe verweisen: «Was nützt es mir, wenn ein Produkt zwar biologisch ist, aber um die halbe Welt geflogen wurde?», fragen sich viele.
In den USA fühlt sich vor allem eine städtische, bewusste Mittelschicht, die sogenannten Lohas (Menschen mit gesundem und nachhaltigem Lebensstil), von der neuen Bewegung angesprochen. Das Angebot ist der Nachfrage entsprechend verteilt: Während man in den Metropolen einfach an Lebensmittel aus der Umgebung kommt, mussten Locavores aus den für ihre Monokulturen bekannten Agrarstaaten wie Nebraska, Kansas oder North Dakota bis vor ein paar Monaten oft bis zu 45-minütige Autofahrten in Kauf nehmen. Nun haben einige der grossen Supermarktketten auf die neue Entwicklung reagiert und bieten vermehrt lokale Produkte an.
Harziger Anfang in Paris
«Die amerikanischen Locavores zeigen viel Tatendrang», sagt Nicolas Legendre, während er in einem Pariser Bistro in seinem Kaffee rührt. «In Frankreich haben wir eher den Hang, auf Impulse von oben zu warten.» Der 28-jährige Lehrer ist ein Nahesser der ersten Stunde. In seinem Blog gibt er Tipps und Adressen, die das Locavores-Dasein in der Hauptstadt erleichtern.
Legendre warnt aber auch vor übertriebenem Eifer: «Man muss alles im richtigen Rahmen betreiben. Wenn wir plötzlich keinen Kaffee und keine Schokolade mehr konsumieren, helfen wir vielleicht damit der Ökobilanz, zerschlagen aber auch die Existenz der Arbeiter auf den Plantagen in der dritten Welt.» Deshalb werden Kolonialwaren wie Schokolade, Gewürze, Kaffee oder Tee als Marco-Polo-Produkte bezeichnet und von den meisten trotz Bekenntnis zum Regionalen weiterhin konsumiert. «Locavores geniessen gerne - wenn sie dabei Rücksicht auf die Umwelt nehmen können, umso besser», sagt Nicolas Legendre.
In Paris hafte der Locavores-Bewegung noch etwas Anekdotisches an. Zwar gebe es einzelne Bestrebungen - wie die «Körbe vom Land», die vor allem Biogeschäfte anbieten, oder das Kühlschrank-Aquarium des Designers Mathieu Lehannen, mit dem man im eigenen Wohnzimmer gleichzeitig Fische züchten und Gemüse ziehen kann -, von einer homogenen Tendenz könne man aber nicht sprechen.
Das zeigt auch die Tatsache, dass die meisten Restaurants, die auf das Prinzip Locavores gesetzt haben, bereits wieder ganz oder teilweise davon abgekommen sind. Obwohl viele Köche von der Idee begeistert sind. Wie etwa Alain Passard vom edlen Restaurant L'Arpège. Der Küchenchef, der aussieht wie ein ergrauter Sarkozy und beim Sprechen dessen Habitus übernommen hat, verarbeitet nur Gemüse, das in seinem eigenen Garten gewachsen ist. Erstens sei die Qualität unschlagbar, sagt er, und zweitens fordere die Konzentration auf Hiesiges die Kreativität der Köche heraus.
Wer auf Ananas und Mango verzichtet, entdeckt dafür wieder vermehrt vergessene Gemüse- und Früchtesorten. Dass er dennoch nicht nur Locavores-orientiert arbeitet, hat mit den Ansprüchen der Gäste zu tun: Noch sind viele nicht bereit, der Umwelt zuliebe im Restaurant auf ihre Lieblingsspeisen zu verzichten. Und zu Hause? «Lokal gewachsene Produkte sind in der Regel viel teurer als die aus dem Supermarkt», sagt die Kundin eines Bioladens. Die meisten Franzosen ernähren sich aus dem Angebot der verschiedenen Lebensmittelgiganten, die dank Grosseinkäufen und zentralen Lagern zu tieferen Preisen anbieten können.
Die ganze Schweiz als Speisekammer
In der Schweiz essen viele gerne und gut regional. Die einen bewusst, die anderen weniger. Das Konsumieren von Produkten, die in der Nähe gewachsen sind, gehört ein Stück weit zu unserer Tradition. Wir sind ein kleines Land - zeichnet man um Zürich einen 240 Kilometer grossen Kreis, wird klar: Fast die ganze Heimat steht uns als Speisekammer zur Verfügung. Im Gegensatz zu den USA und vielen EU-Ländern, wo fast nur noch Grossbauernbetriebe vorhanden sind, gibt es in der Schweiz - dank Subventionen - eine doch noch recht diversifizierte Landwirtschaft. Zudem tragen Marktfahrer, Metzger, Bäcker und Gemüsehändler ebenfalls dazu bei, dass unser kulinarisches Erbe lebendig bleibt.
Dieser Tradition zum Hiesigen gesellt sich nun der Zeitgeist dazu. Regional zu essen, ist wieder in. Das war nicht immer so. Als Tine Giacobbo und Katharina Sinniger vor gut 15 Jahren (in der Blüte der Multikulti-Welle) ihr Restaurant Alpenrose in Zürich eröffneten und von Anfang an nur auf Schweizer Produkte setzten, wurde ihr Konzept als chancenlos verschrien. Das Lokal ist heute nicht nur erfolgreicher denn je, sondern hat auch im ganzen Land Nachahmer gefunden - Swissness boomt.
Das wissen auch die Grossverteiler und haben sich die neue Entwicklung bereits ins Gestell geholt: Bei der Migros stehen 1000, bei Coop 3000 klar deklarierte regionale Produkte im Angebot. In gewissen Geschäften machen diese Nahrungsmittel heute schon 16 Prozent des Umsatzes aus - Tendenz steigend. Fragt man die Kunden nach dem Grund für den Griff zum Regionalen, sind die Antworten eindeutig: Erstens weckt es Vertrauen. Je klarer deklariert ist, wo etwas herkommt und wer dahintersteht, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Produkt hält, was es verspricht. An zweiter Stelle der ausschlaggebenden Kriterien steht die CO2-Bilanz der Nahrungsmittel: Immer mehr Leute wollen beim Essen nicht nur sich selber Gutes tun, sondern auch der Umwelt.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch