Lernen von Venezuela
132 Kinder und Jugendliche mit 26 Nationalitäten proben derzeit für ein Konzert beim Lucerne Festival. Dahinter steckt eine soziale Bewegung, die in Südamerika ihren Anfang nahm.

Das Ziel dieser Woche? «Beethoven!», sagt der venezolanische Dirigent Ulysses Ascanio und grinst. Man müsse hoch hinauswollen, «wir haben hier ein Kinderorchester, aber wir machen keine Kindermusik».
Was er meint, hat man zuvor in der Probe gehört. Nicht bei Beethoven, sondern beim «Mambo» von Leonard Bernstein. Es ist ein süffiges Stück, mitwippen ist leicht – aber die Rhythmen sind vertrackt. «Noch einmal!», ruft Ascanio und klatscht mit. Er will es präzis haben, der Rhythmus ist die Zündung des Ganzen, nachgeben gilt nicht. Auch wenn er dabei ein T-Shirt ums andere durchschwitzt.
Es ist heiss und eng und laut hier im Luzerner Kirchgemeindesaal von St. Leodegar. Auch mit vielen «Pscht!» sind die 132 Kinder und Jugendlichen kaum zu bändigen; man spürt ihren Hunger nach Musik, die Lust am Zusammenspiel. Sie sind aus Wien und London, aus Portugal und Kolumbien, aus der Lombardei und diversen Schweizer Städten hergereist. 26 Nationalitäten sind vertreten, und ebenso viele Sprachen. Aber sie alle kennen diesen «Mambo», sie haben auch Beethovens 5. Sinfonie schon gespielt – das Repertoire ist in allen Organisationen, die sich an diesem Musiccamp beteiligen, das gleiche.
Auch die Prinzipien sind dieselben, nämlich: Man will Kindern den Zugang zur Musik vermitteln, die ihn sonst nicht hätten. Der Unterricht, der immer in der Gruppe stattfindet, ist gratis. Und das Instrument wird zur Verfügung gestellt.
Gefährliche Flöte
In der Schweiz heisst die Organisation hinter dem Projekt Superar Suisse; seit 2012 hat sie in Zusammenarbeit mit Schulen in Zürich, Basel und Lugano Orchester und Chöre aufgebaut. Dazu gibt es Chöre in Winterthur, in Feuerthalen bei Schaffhausen, im aargauischen Rottenschwil. Ausgewählt werden Schulen mit mindestens 50 Prozent Ausländeranteil; dort gibt man ein Konzert, die Kinder dürfen Instrumente ausprobieren – und wer will, kann einsteigen.
Das klingt einfacher, als es ist. «Wir verlangen zwar kein Geld, aber sonst viel», sagt Marco Castellini, der künstlerische Leiter von Superar Suisse. Geprobt wird mindestens zweimal pro Woche – dann, wenn die Gspänli Fussball spielen oder gamen. Da muss ein Kind schon sehr motiviert sein, um dabei zu bleiben; umso mehr, wenn die Unterstützung zu Hause fehlt. Nicht alle Eltern sehen einen Sinn darin, dass ihre Tochter Fagott lernt. Viele kommen aus ganz anderen musikalischen Kulturen, «eine Geige hat keinen Wert für sie, und den Namen Brahms haben sie vielleicht noch nie gehört», sagt Castellini. Er erzählt von einem Trompeter, «einem wirklichen Talent», der ein Jahr lang kämpfen musste, bis er zu Hause üben durfte.
Auch die Eltern der 16-jährigen Rebekah, die nun in der Garderobe auftaucht, waren skeptisch, als sie vor fünf Jahren mit einer Querflöte nach Hause kam: «Meiner Mutter wäre eine Geige lieber gewesen, sie meinte, die Flöte könnte meinen Kiefer verformen.» Rebekah lebt in London, ihre Eltern stammen aus Jamaika, und die Woche in Luzern ist für sie «just great». In der Jugendherberge hat sie ein Zimmer mit Mädchen in ihrem Alter, «und man hat darauf geschaut, dass wir alle eine gemeinsame Sprache haben». Welche Musik spielt sie am liebsten? «Schnelle Stücke!», sagt sie und huscht wieder zurück in die Probe.

Dort hat man inzwischen zu Brahms gewechselt, zum Ungarischen Tanz Nr. 5. Andere Musik, ähnlicher Ansatz: Auch hier zählt der rhythmische Kick mehr als die Klangnuancen. Hauptsache, es klingt lebendig: Darum geht es, darum ging es schon immer in dieser Bewegung, die 1975 unter dem Namen El Sistema in Venezuela startete – und nun für drei Jahre das Lucerne Festival infizieren soll.
Proben in der Tiefgarage
Ulysses Ascanio, der Dirigent dieser Musikwoche, ist der Garant für den richtigen Geist des Ganzen. Er war einer der elf Jugendlichen, mit denen der Komponist und Politiker José Antonio Abreu einst in einer Tiefgarage in Caracas das erste Sistema-Orchester gegründet hat. Als Kind hatte Ascanio Geige gelernt, ungern, wie er sagt: «Mein Lehrer war alt, und das Instrument sagte mir nichts.» Später hat er zur E-Gitarre und zum Rock 'n' Roll gewechselt. Aber sein Bruder kannte Abreu, und weil die Geige damals noch wenig verbreitet war in Venezuela, hat ihn dieser bekniet, im Orchester mitzumachen. Was dann passierte, war «eine Offenbarung. Diese Energie! Es hat uns einfach mitgerissen.»
Zunächst habe man Abreu ja für verrückt gehalten. «Er sprach von Tourneen, von Schallplatten bei der Deutschen Grammophon – ein Wahnsinn.» Aber der Wahnsinn wurde Realität, und er entwickelte eine Bedeutung weit über die Musik hinaus. Abreu holte die Kinder von der Strasse in seine Ensembles; El Sistema war von Beginn weg auch ein soziales Projekt. Und er baute ein mehrstufiges Orchestersystem auf: Wer auf einem Niveau gut war, rückte aufs nächste vor; die Besten eroberten mit dem Orquesta Sinfónica Simón Bolivar die internationalen Podien.
Und die Musikwelt staunte: über den Dirigenten Gustavo Dudamel, der aus dem Sistema kam, über eine Bewegung, der in Venezuela inzwischen 700'000 Kinder angehören. Ein Land, das sonst vor allem negative Schlagzeilen machte und auf der klassischen Landkarte nie eine Rolle gespielt hatte, wurde zum Vorbild für den europäischen Musikbetrieb. In rund 50 Ländern wird die Sistema-Idee inzwischen kopiert; illustre Dirigenten, Orchester und Musikhochschulen pflegen den Kontakt mit Venezuela. Und die Bewegung wächst, Jahr für Jahr.
Selbstverständlich ist das nicht. Es braucht viel Geld und Goodwill, um eine Organisation wie Superar Suisse aufzuziehen. Und es braucht ein gesellschaftliches Klima, das offen ist für Ideen, die den eigenen Traditionen widersprechen – in diesem Fall jener des Einzelunterrichts, die lange als die einzig richtige galt. In den letzten Jahren hat sich das geändert, nicht nur bei Superar Suisse. In vielen Schweizer Schulen wurden Bläserklassen eingerichtet, auch die Musikschulen bieten vermehrt schon für Anfänger Ensembles an.
Unverkrampfte Spielfreude
Klar, dass da auch Skepsis aufkommt. Lernt man genug in der Gruppe? Und wie kann man da auf unterschiedliche Begabungen eingehen? Marco Castellini sieht es pragmatisch: «Es kommt immer wieder vor, dass ein Lehrer einen Schüler nach der Gruppenprobe noch dabehält für ein bisschen Einzelunterricht.»
Dass man mit dem Modell insgesamt mehr gewinnt als verliert, davon ist er überzeugt. Und man hört es in dieser Luzerner Probe: Auch wenn nicht jedes Unisono wirklich einstimmig ist – die unverkrampfte, teilweise durchaus virtuose Spielfreude macht vieles wett. Das ist es doch, was man so sehr sucht im Klassikbetrieb: diese Freiheit, diese Freude an der Musik. Auf die kommt es zunächst einmal an. Die Geheimnisse einer beethovenschen Durchführung kann man immer noch später knacken.
Konzert im Luzerner KKL:Samstag, 18. August, 14.30 Uhr. www.superarsuisse.org
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch