
Entschuldige bitte, dass ich dich so direkt anrede, aber das machen ja alle, niemand sagt dir Mister Buffon oder Signore Buffon, für alle bist du nur Gigi, ein Gigi Nazionale, und Gigi passt auch zu dir, Gigi ist einer für alle. Gianluigi wäre unpersönlicher.
Ich schreibe dir nach diesem Mittwoch. Mir war klar, dass du an diesem Tag wohl deinen Abschied vom grossen Fussball geben wirst, und ich dachte, wenigstens darfst du es auf einer grossen Bühne tun, im historischen Estadio Santiago Bernabéu mitten in Madrid. Dann, als es Abend wurde, habe ich nicht mehr an dich gedacht, Juve war ja chancenlos, 0:3 nach dem ersten Spiel.
Mit Freunden war ich, während du spieltest, bei einem anderen grossen alten Mann, bei Bob Dylan im Hallenstadion, ein nächster Halt auf seiner Tour, die seit 1988 nicht endet. Er kam um acht und ging um Viertel vor zehn und sagte dazwischen wie immer nichts, aber er sang diesmal mehr und nuschelte weniger, und man sah hinter seinem Piano sein Gesicht, weil er es diesmal nicht mit seinem Hut verdeckte, und zuletzt hob er gar seine rechte Hand, ganz kurz.
Seien wir dankbar, dass es solche Typen gibt
Mit dem wunderbaren letzten Lied im Ohr, «Ballad of a Thin Man», über dessen Deutung wie bei vielen anderen Dylan-Songs gerätselt wird, es handelt von einem Albtraum, von Machtlosigkeit, von Ausgeliefertsein, gingen wir in eine nahe Bar, und zu sechst standen wir vor dem kleinen Bildschirm eines Handys – und sahen dich in Madrid.
Wir sahen deine Machtlosigkeit. Deine Schreie. Deinen Albtraum. Du warst an diesem Abend einem englischen Schiedsrichter ausgeliefert. Es war ein Drama. Und als du vom Rasen geschickt wurdest, sah man am Spielfeldrand auch kurz Zinédine Zidane, er hat dir nachgesehen, wie du verschwunden bist in die Kabine, und ich fragte mich: Was geht ihm in diesem Moment durch den Kopf?
Du weisst, Gigi, jene Vollmondnacht in Berlin, damals beim WM-Final 2006. Zidane hatte wie ein rasender Stier seinen Kopf in die Brust von Materazzi gerammt, und du bist wie eine Furie aus deinem Tor gerast, hast mit gestrecktem Arm und Finger auf Zidane gezeigt, bist weiter zum Linienrichter gerannt und hast wild gestikuliert, er müsse das doch gesehen haben: Rot für Zidane! Ich war geschockt, konnte nicht verstehen, wie der sanfte Zizou sich so aufführte, aber ich war auch wütend auf dich. Du hast dann nachher fast zärtlich deine Hände um Zidanes Kopf gelegt und ihm etwas ins Ohr geflüstert, ich fand es scheinheilig.
Ein Freund schrieb mir, du seist ein Moralist, wenn es um andere geht, und er finde die Glorifizierung des Gigi heillos übertrieben. Ich schrieb zurück: Seien wir doch dankbar, dass es solche Typen gibt, mit einem bewegten Leben und auch Brüchen und schönen und unschönen Geschichten!
Vierzig bist du kürzlich geworden, Gigi, und kürzlich hast du gesagt, man dürfe dich selbst mit achtzig noch anrufen, wenn plötzlich kein Torhüter da wäre, und du würdest dann kurz trainieren und einspringen. Gigi, vielleicht bist du ja auch auf einer Never Ending Tour. Nur läuft zurzeit einiges schief. Aber bei Bob Dylan gab es ja auch Auftritte, die waren unerträglich. Und er macht immer weiter. Ich will dich auch nicht vermissen, Fredy.
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Lieber Gigi
Ein Brief an Gianluigi Buffon, den gegen Real Madrid gar nichts mehr zurückhalten konnte.