Linke fordern Denkmäler für Opfer des Landesstreiks
Vor 100 Jahren starben Arbeiter bei Zusammenstössen mit der Armee. SP-Vertreter wollen nun Gedenkstätten – und provozieren einen Streit mit der Rechten.

Die grösste politische Krise, die tiefste soziale Spaltung, die gefährlichste Eskalation in der Geschichte des Schweizer Bundesstaats: Geht es um den Landesstreik vor 100 Jahren, überbieten sich Politiker und Historiker mit Superlativen. Damals stand die Schweiz am Rande eines Bürgerkriegs – und doch reicht das kollektive Gedächtnis kaum bis in jene Zeit zurück, als 250'000 Menschen ihre Arbeit niederlegten und die Landesregierung die Armee gegen die Streikenden mobilisierte. Das soll sich nun ändern: Vertreter der SP wollen in den Städten, in denen bei den sozialpolitischen Auseinandersetzungen Arbeiter getötet wurden, öffentliche Gedenkstätten errichten lassen. Entsprechende Vorstösse sind in den Gemeindeparlamenten von Zürich, Genf, Biel, Basel und Grenchen in Entstehung.
Der Zürcher SP-Gemeinderätin Vera Ziswiler etwa schwebt eine Gedenktafel auf dem Fraumünsterplatz vor. Dort wurden am 10. November 1918 bei der gewaltsamen Auflösung einer Kundgebung ein Soldat getötet und mehrere Demonstranten verletzt. Insgesamt sind in jener Zeit bei Zusammenstössen zwischen Arbeitern und Ordnungskräften allein in Zürich sieben Personen gestorben. In den nächsten Wochen wird Ziswiler der eigenen Fraktion ein Postulat für eine Gedenkstätte vorschlagen, das sie sowohl dort als auch im Gemeinderat für mehrheitsfähig hält. «Um die Schweiz von heute zu verstehen, muss man die Ereignisse um den Landesstreik kennen. Bisher hat dieser keinen gebührenden Platz in der offiziellen Geschichtsschreibung», sagt sie.
Ideologisch aufgeladene Diskussion
In Biel ist man bereits einen Schritt weiter: Dort sucht die Stadtregierung zurzeit auf ein linkes Postulat hin gemeinsam mit dem regionalen Gewerkschaftsbund einen geeigneten Platz für ein Denkmal, wie SP-Gemeindeparlamentarierin Anna Tanner sagt. Sollte dieses Projekt nicht vorankommen, behalte sie sich vor, erneut einen Vorstoss dazu einzureichen. In Biel wurde im Juli 1918 bei Unruhen vor dem Landesstreik im November ein junger Arbeiter von der Armee erschossen.
Damit sollen fünf weitere Schweizer Städte Gedenkstätten zum Landesstreik erhalten. In Olten steht bereits seit dem 11. November 2008 eine Skulptur aus Rostmetall auf der Schützenmatte. Die zwei abstrakten Figuren recken ihre langgezogenen Arme in die Höhe und sollen daran erinnern, dass der dreitägige Landesstreik im November 1918 vom damaligen Oltener Volkshaus aus orchestriert worden war. In Grenchen wird zudem seit dem 18. November 2008 mit einer bronzenen Gedenktafel auf dem Zeitplatz der drei Männer gedacht, die dort am letzten Streiktag von den Waadtländer Truppen erschossen wurden.
Die Pläne der SP-Vertreter sorgen bereits jetzt für Zündstoff, denn die Diskussion um den Landesstreik ist ideologisch aufgeladen. SP und Gewerkschaften sind seit Anfang Jahr bemüht, die Ereignisse im Herbst 1918 mit Podien, Ausstellungen, Tagungen und einem Freilichttheater ins öffentliche Bewusstsein zu rufen. Im November ist zudem ein grosser Gedenkanlass in Olten geplant. SVP-Chefstratege Christoph Blocher hatte Anfang Jahr demonstrativ eine Gegenveranstaltung angekündigt: Demnach sollen am 14. November Soldaten in Weltkriegsuniform auftreten, und er selbst werde eine Rede halten, «um den tapferen Soldaten und dem standhaften Bürgertum seinen Dank auszusprechen», berichtete damals der «SonntagsBlick».
Unzulässige «Glorifizierung»?
Der Landesstreik 1918: Er war je nach Sichtweise eine wichtige Weichenstellung für sozialpolitische Reformen wie die AHV und die 48-Stunden-Woche oder aber für die Festigung des bürgerlichen Blocks, der sich wehrhaft gegen die aufmüpfige Arbeiterschaft gezeigt hatte. Entsprechend genervt zeigt man sich nun auf rechter Seite über die «Glorifizierung» des Landesstreiks. «Ich finde es gut, wenn wir historische Ereignisse kritisch würdigen und aufarbeiten. Aber die Linke stellt den Landesstreik verharmlosend dar. Denkmäler würden diese einseitige Sichtweise stützen», sagt SVP-Nationalrat Peter Keller. Anderen Jubiläen wie jenes zur 500 Jahre zurückliegenden Schlacht von Marignano habe sich die SP 2015 «total verweigert», weil es ihr ideologisch nicht gepasst habe – obwohl Marignano wichtig für die demokratische und freiheitliche Tradition der Schweiz sei. Der Landesstreik hingegen sei das Rütli der Linken.
Historiker Keller stört sich insbesondere daran, dass die «radikal-revolutionäre Rhetorik» der Streikanführer um SP-Politiker Robert Grimm nicht thematisiert werde. «In der damaligen aufgeheizten Stimmung in ganz Europa, in der rund um die Schweiz Staaten zerfielen, hat Grimm gefährlich und antidemokratisch gezündelt.» Zudem würden die vom Bundesrat mobilisierten Ordnungskräfte durch Denkmäler in eine Täterrolle gedrängt, obwohl sie «massvoll» vorgegangen seien, so Keller.
Die Diskussion wird demnächst auch im nationalen Parlament geführt: SP-Nationalrat Fabian Molina hat im Juni eine Interpellation eingereicht, die Fragen zur Aufarbeitung der Ereignisse aufwirft – etwa zu einer Entschuldigung des Bundesrats oder zu einer Gedenkveranstaltung für die Opfer. Der Landesstreik gehöre zur Identität der Schweiz – auch seine Schattenseiten, sagt Molina. «Wir müssen uns daran erinnern, dass Schweizer Soldaten auf Schweizer Arbeiter geschossen haben. Nur so können wir aus der Geschichte lernen.»
Der Bundesrat indes sieht keinen Handlungsbedarf: Er halte sich an den Grundsatz, wonach Veranstaltungen im Gedenken an historische Ereignisse von Bundesseite nur zurückhaltend durchzuführen seien, heisst es in der Antwort. Eine Entschuldigung für die Armee-Einsätze hält er ebenfalls nicht für angebracht, weil er frühere Entscheidungen der Landesregierung nicht kommentiere. Für Molina ist damit klar: «Der Bundesrat ist nicht bereit, zur Geschichte der Schweiz zu stehen. Es wäre höchste Zeit, dass er die Fehler des Staates vor 100 Jahren anerkennt.» Für Keller wiederum passt diese Forderung zur Haltung linker Kreise, «welche die Schweiz gerne auf die Anklagebank setzen, um sich moralisch zu inszenieren».
Der Landesstreik 1918: Er bleibt auch nach 100 Jahren Projektionsfläche für politische Grabenkämpfe.
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