
Mit der Zufriedenheit von Heidi Heimlich war es zu Ende, als ihr der Lohnausweis von Peter Poser in die Hände geriet. Er verdiente mehr als sie! Jetzt konnte sie den Typen noch weniger leiden. Sie fand, sie leiste mehr als er, und vermutete Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Sie empörte sich dermassen, dass sie sich nicht mehr richtig auf ihre Arbeit konzentrieren konnte. Ihre Motivation und Arbeitsleistung sanken in den Keller. Sie kündigte, und ihre Chefin war froh darüber.
Dieses Beispiel ist zwar fiktiv, aber realistisch. Es zeigt, was passieren kann, wenn plötzlich Lohntransparenz hergestellt wird. In der Schweiz darf man nämlich über alles reden. Über Sport, Politik, Religion. Sogar über Sex. Aber nicht über den Lohn.
Das hat Folgen, zum Beispiel für die Lohnverhandlung. Wäre diese ein Spiel, so wäre das Lohntabu eine Einladung zum Schummeln. Die Firma kennt alle Löhne, ich aber nur meinen eigenen. Wenn ich aber nicht weiss, was der andere verdient, was kann ich dann verlangen? Die Unternehmer sitzen hier am längeren Hebel. Es überrascht nicht, dass sich die Organisationen der Arbeitgeber gegen den Ausgleich dieser Informationsasymmetrie vernehmen lassen.
Arbeitnehmervertreter wiederum verlangen, dass die Karten auf den Tisch gelegt werden. Lohntransparenz gilt hier als Gebot der Stunde. Aber hängen Lohngerechtigkeit und Arbeitszufriedenheit tatsächlich von der Offenlegung der Löhne ab? Dass Unternehmer und Gewerkschafter hier unterschiedlichen Theorien anhängen, ist klar. Doch auch in der Praxis gehen die Erfahrungen auseinander.
Zwar finden sich in den weniger kritischen Medien zahlreiche euphorische Berichte über Firmen, in denen sich nach Offenlegung der Saläre die Produktivität, das Betriebsklima und die Mitarbeiterzufriedenheit verbessert hätten. Viele dieser Berichte stammen ausserdem von wagemutigen Start-ups aus dem IT- und Technologie-Sektor. Doch was sich dort als Burner erweist, kann anderswo zu überhitzten Gemütern führen.
Leider kennt auch die Forschung keine klare Antwort, denn die wissenschaftlichen Publikationen zu dieser Frage scheinen eher die Grundhaltung der jeweiligen Forschungscommunity wiederzugeben als die Ergebnisse rigoroser Studien. Die Vergütungsforscherin Elena Belogolovsky sagt, dass sich unterbezahlt fühlt, wer den Lohn des anderen nicht kennt.
Der Verhaltensökonom Bruno S. Frey hingegen verweist auf die menschliche Neigung, sich stets mit anderen zu vergleichen. Werde nun in einem Unternehmen Lohntransparenz eingeführt, so fokussierten die Mitarbeiter ganz darauf, mehr verdienen zu wollen als die anderen. Dann entstehe ein Gerangel um das höchste Salär – mit negativen Auswirkungen auf das Glücksempfinden der Betroffenen. Dieses Eindrucks kann man sich mit Blick auf manche typisch schweizerische Branche tatsächlich kaum erwehren.
Lohntransparenz hat also positive Effekte und negative. Wahrscheinlich heben sie sich in etwa auf. Lässt sich also nicht sagen, ob wir die Löhne offenlegen sollen? Doch, und zwar aus ethischen Überlegungen. Denn der Verdacht von Heidi Heimlich, aufgrund ihres Geschlechts ungerecht entlohnt zu werden, muss geprüft werden. Wenn sie für dieselbe Leistung einen anderen Lohn bekommt als Peter Poser, muss das korrigiert werden.
Natürlich dürfen Unternehmen unterschiedliche Löhne bezahlen. Aber sie müssen sich an das Gebot der Fairness halten: gleicher Lohn für gleiche Leistung – unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Farbe der Socken. Eine Volkswirtschaft, deren Entlohnungssystem zum Schummeln einlädt, macht den Graben zwischen Wirtschaft und Gesellschaft nur noch tiefer. Vielleicht macht uns Lohntransparenz etwas unglücklicher. Aber Gerechtigkeit ist wichtiger als Glück.
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Lohntransparenz schafft Fairness, macht aber unglücklich
In der Schweiz darf man über alles reden. Über Sport, Politik, Religion. Sogar über Sex. Aber nicht über den Lohn.