Europameisterinnen England«Macht Platz, Jungs, wir haben unseren Pokal»
Die Nummer 1 in Europa – aber was bedeutet das in England? Für das siegreichen Frauen-Team der EM 2022 lag die Priorität des Erfolgs anderswo.

Schon Sonntagnacht war es auf Trafalgar Square hoch hergegangen. Hunderte von Fans hatten das dorthin übertragene Endspiel der Europa-Fussballmeisterschaft der Frauen begeistert und in wachsender Spannung auf riesigen Bildschirmen verfolgt. Beim Abpfiff dann, als der Sieg des England-Teams endlich fest stand, gab es kein Halten mehr unter den Versammelten. Geradezu ekstatisch hüpften viele in die Wasserbecken mit den berühmten Brunnen, um den sportlichen Triumph – einen Sieg über Deutschland! – fröhlich johlend zu feiern.
Zur gleichen Zeit brach ein paar Meilen westlich, im voll besetzten Wembley Stadion, der erleichterte Jubel aus, auf den eine fussball-närrische Nation tatsächlich lange hatte warten müssen. Endlich seien «56 Jahre Demütigung und Pein» (seit dem WM-Sieg über Deutschland von 1966) vorbei, erklärten die Londoner Zeitungen die allgemeine Euphorie anderntags. Endlich habe England wieder mal gesiegt.
«Es war kein Traum… wir haben wirklich gegen Deutschland gewonnen», überschrieb die Daily Mail ihre Titelseite, noch immer in fast ungläubigem Staunen. Hier sei «Geschichte gemacht» worden, konstatierte der Mirror. «Macht Platz, Jungs», frotzelte die Sun. «Wir haben unseren Pokal.»
Denn bezeichnenderweise war dieser erste grosse nationale Endspiel-Sieg Englands seit 1966 nicht von männlichen Spielern errungen worden, sondern von den englischen Frauen. Und das in einer Atmosphäre heiterer Erwartung, nicht bei einer von Gewalt überschatteten Veranstaltung, wie es bei der Männer-EM im vorigen Jahr im Wembley der Fall gewesen war, als England unterlag.
Und was für ein «game changer», was für eine Wende fürs Fussballspiel als solches der Titelgewinn war, das mussten diesmal auch alle Briten einräumen, die «ihren» weiblichen Teams über die Jahre wenig Beachtung geschenkt, ihnen wenig Respekt gezollt hatten. Mit ihrer Könnerschaft, ihren unarroganten, gut gelaunten Darbietungen und natürlich ihrem Erfolg am Ende hatten die Frauen um Kapitänin Leah Williamson bei diesem Turnier einen echten Durchbruch auch an der Geschlechterfront erzielt – und sich und anderen Fussballerinnen auf der Insel weithin Popularität verschafft.

Immerhin war es, als das England-Team der Männer 1966 den WM-Pokal im Wembley-Stadion eroberte, Frauen in England noch verboten, überhaupt an Fussball-Wettbewerben teilzunehmen. Nur sehr zögernd hatte sich in den letzten Jahren Fortschritt eingestellt.
Insofern, lobte Königin Elizabeth II. höchstselbst das siegreiche Team, gehe dessen Erfolg «weit über den Pokal hinaus, den Sie so verdient gewonnen haben». Darauf könne das Team stolz sein: «Sie alle haben ein Beispiel gegeben, das den Mädchen und Frauen von heute, aber auch künftigen Generationen, eine echte Inspiration sein wird.» Die Spice Girls, die selbst einmal eine Vorreiterrolle auf einer anderen Art von Bühne gespielt hatten, rühmten schlicht die «girl power» ihrer «beeindruckenden» Geschlechtsgenossinnen.
Bald geht es wieder nur um die Männer
600’000 Tickets waren für das Turnier verkauft worden. 17 Millionen Zuschauer hatten das Endspiel verfolgt. Binnen zwei Jahren hofft Englands Fussballverband (FA) nun 120’000 Mädchen mehr für regelmässiges Fussballspielen zu gewinnen. An jeder Schule im Land müsse künftig Fussball für Schülerinnen angeboten werden, fordert der Verband. Freilich weiss man auch beim FA, dass die Zuschauerzahlen bei den Liga-Spielen der Frauen sich bis heute in Grenzen halten.

Dieselbe Boulevardpresse, die am Montag noch überschwänglich den Sieg «unserer Mädchen» feierte, hatte am Samstag zuvor bereits mit fetten Extra-Beilagen zum Auftakt der Premier League signalisiert, dass sie sich vom kommenden Wochenende an wieder ganz auf den Männer-Fussball konzentrieren wird. Und etlichen Fussball-Fans in England war der Triumph ihres Landes im europäischen Rahmen, vor allem gegen den Erzrivalen Germany, das Wichtigste am Spiel vom Sonntag – egal, ob dieser Triumph aufs Konto von Frauen oder Männern ging.
Inspiration vieler Mädchen und Frauen
Das Bedürfnis, England als die Nummer 1 in Europa zu sehen, ist gerade für Englands Brexiteers in diesem Sommer umso stärker, als gegenwärtig mehr und mehr Probleme, die durch Brexit entstanden sind, ans Tageslicht drängen. Nicht hören wollen Brexit-Hardliner – auch im Regierungslager – von den Staus an den Grenzen, vom erlahmenden Handel mit Europa, von den mit ihrem Kapital zum Kontinent ziehenden britischen Geschäftsleuten, von den Schwierigkeiten, mit denen das Finanzzentrum der City of London ringt.
Mögen auch vereinzelte Stimmen inzwischen vorsichtig zu einer erneuten Annäherung an die EU raten: Offiziell will nicht einmal die oppositionelle Labour Party von solchen Vorschlägen etwas wissen. Am «harten Brexit» wird fürs Erste nicht gerührt. «Europa» kann so für Fussball-Fans, Fussballer und Fussballerinnen in Grossbritannien ganz Verschiedenes bedeuten. Den einen ist es die Bühne, auf der man seine ewigen Rivalen mit ernster Entschlossenheit, zur Glorie des eigenen Landes, niederzuringen sucht.

Für das England-Team, das sich am Montagmittag noch zu einer «kleinen» Siegesfeier auf dem Trafalgar Square versammelte, wären nationalistische Töne andererseits völlig fehl am Platz gewesen – zumal gruppiert um eine niederländische Trainerin, die nun Meisterschaften für zwei ganz unterschiedliche europäische Nationen, diesseits und jenseits des Ärmelkanals, gewonnen hat.
Fahnenschwenkend und glücklich waren 7000 Fans an diesem Tag erneut unter Lord Nelsons Säule angerückt, um «ihr» Team noch einmal zu feiern und zusammen mit den Spielerinnen «Sweet Caroline» – die jetzt allgegenwärtige Fussballhymne – zu singen. Im Grunde, meinte Kapitänin Williamson, sei das Ziel ja schon erreicht gewesen «vor dem Endspiel», vor dem schönen letzten Erfolg auf dem Wembley-Rasen. Mit der Inspiration so vieler Mädchen und Frauen hätten sie und alle anderen Beteiligten «das Fussballspielen verändert – in unserem Land und in der ganzen Welt».
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