Hygiene im AlltagMacht zu viel Hygiene Kinder krank?
Gerade im Zuge der Corona-Pandemie finden Desinfektions- und Reinigungsmittel reissenden Absatz. Nicht immer ist ihr Einsatz sinnvoll.

Experten raten, Reinigungsmittel gezielt im Haushalt einzusetzen.
Das kindliche Immunsystem braucht den Kontakt zu Mikroben zum Trainieren und zur Verhinderung von Allergien – zu viel Hygiene und Sauberkeit in ihrem Umfeld schade Kindern daher, lautet eine gängige Annahme. Gründliche Reinigung im Haushalt und Massnahmen gegen Krankheitserreger wie regelmässiges Händewaschen stünden aber nicht prinzipiell im Widerspruch zum Kontakt mit nützlichen Organismen, betonen nun zwei Forschende in einem Übersichtsartikel im «Journal of Allergy and Clinical Immunology». Auf gezieltes Vorgehen komme es an.
Die Reaktionen vieler Menschen in der Corona-Pandemie zeigten, dass die Grenze zwischen sinnvoller Sauberkeit und Hygiene und übertriebenen oder sogar potenziell gesundheitsgefährdenden Massnahmen nicht jedem klar seien, schreiben Graham Rook vom University College London und Sally Bloomfield von der London School of Hygiene and Tropical Medicine.
Statt sich gezielt auf Massnahmen wie regelmässiges Händewaschen, nicht ins Gesicht fassen und Abstand halten zu konzentrieren, würden ungezielte Massnahmen wie eine besonders intensive Bodenreinigung praktiziert. Gerade für Kinder, aber auch für die Gesundheit von Erwachsenen könne das Folgen haben.
Für das verstärkte Auftreten chronisch entzündlicher Erkrankungen wie Allergien, Autoimmunitäts- und entzündlichen Darmerkrankungen in Gesellschaften mit westlichem Lebensstil ist zumindest anteilig eine gestörte Immunregulation die Ursache, wie es im «Journal of Allergy and Clinical Immunology» heisst. «Es wird vermutet, dass diese fehlerhafte Immunregulation auf eine Verzerrung des mikrobiellen Inputs im frühen Leben durch häusliche Hygienepraktiken zurückzuführen ist.» Hygiene daheim und im täglichen Leben sei aber auch unerlässlich zum Schutz vor gefährlichen Erregern.
Mikroorganismen im Grünen wichtig
Die in einem modernen Haushalt zu findenden Mikroorganismen seien zu einem erheblichen Teil nicht diejenigen, die für die Immunität benötigt würden, erläutern Rook und Bloomfield. Es gebe inzwischen konkrete Hinweise darauf, dass Mikroorganismen der natürlichen grünen Umgebung besonders wichtig für die Gesundheit seien. Die Reinigung und Hygiene daheim habe auf den Kontakt zu diesen Mikroben draussen kaum Einfluss.
Als einen weiteren Aspekt nennen die zwei Experten Forschungsergebnisse, denen zufolge der Zusammenhang zwischen Wohnungsreinigung und Gesundheitsproblemen wie Allergien wohl häufig auf den wiederholten Kontakt und das Einatmen von Reinigungsmitteln zurückgeht. Beteiligt sei unter anderem ein sogenannter TH2-Effekt, über den das Immunsystem für eine allergische Reaktion vorgeprägt werde.
Auch die regelmässige Verwendung von Mitteln mit quartären Ammoniumverbindungen werde mit Problemen wie Asthma in Verbindung gebracht. Zudem enthielten viele Produkte potenzielle Allergene wie Enzyme. Sauberkeit daheim und persönliche Hygiene seien prinzipiell gut, es sei aber auf die richtige und gezielte Nutzung der Produkte zu achten, um die Exposition von Kindern gegenüber Reinigungsmitteln zu begrenzen.
Entscheidend sei auch etwa das Waschen von Obst und Gemüse sowie das Händewaschen nach dem Toilettengang oder vor dem Berühren von Lebensmitteln, um Darminfekten vorzubeugen. Auch Müll, Haustiere und von vielen Menschen berührte Oberflächen seien potenzielle Quellen für Krankheitserreger und damit Anlass zum Händewaschen.
«Ungezielte tägliche Routinereinigung kann negative Auswirkungen auf das immunregulatorische System haben.»
Böden und allgemein Umgebungsflächen im häuslichen Bereich seien hingegen als risikoarm in Bezug auf Infektionsübertragungen anzusehen, sie seien selten mit schädlichen Mikroben kontaminiert und meist keine kritischen Kontaktpunkte. Es sei nicht sinnvoll oder sogar schädlich, solche Flächen zu sterilisieren oder gar Gelände im Freien und bestimmte Bereiche in Gebäuden – etwa U-Bahn-Stationen – mit Desinfektionsmitteln einzusprühen oder einzunebeln. Übertriebene Massnahmen im Haushalt wie eine «ungezielte tägliche Routinereinigung in dem Irrglauben, dass sie vor Infektionen schützt, kann negative Auswirkungen auf das immunregulatorische System haben», schreiben Graham Rook und Sally Bloomfield.
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