«Manche Mängel zeigen sich erst nach Jahrzehnten»
Die Schweiz ist ein Brückenland, darunter gibt es auch Pionier-Bauten. ETH-Professor Stefan Holzer über deren Bauweise und Sicherheit.
Wie geht man hierzulande mit historischen Brücken und deren Sicherheit um?
Verantwortlich für die regelmässige Überwachung der Brücken sind bei uns die jeweiligen Eigner, also der Bund oder die Kantone. Der Umgang umfasst eine periodische Überprüfung, eine rechnerische Beurteilung der Standsicherheit sowie Anpassung an neue, erhöhte Lasten, ausserdem, falls nötig, Verstärkungsmassnahmen. Dies wird durch die sogenannte SIA-Norm 469 «Erhaltung von Bauwerken» von 1997 und die SIA-Norm 269 «Erhalten von Tragwerken» von 2011 im Detail geregelt. Insbesondere mit letzterer ist die Schweiz dem europäischen Ausland weit voraus, dort gibt es noch keine Detailnormen zum Erhalten von Tragwerken.
Gibt es in der Schweiz ähnlich gebaute Pionierbauten wie die Morandi-Brücke?
Bei der eingestürzten Brücke handelte es sich um eine Schrägseilbrücke. Dabei wird der horizontale Brückenträger durch schräg geführte, gerade Seile an einem hohen Pylon aufgehängt - nicht wie bei einer Hängebrücke über vertikal geführte Hänger an einem durchhängenden Tragseil). Auch in der Schweiz gibt es Schrägseilbrücken, jedoch nicht solche in der Bauart der Morandi-Brücke. Diese ist weltweit nahezu einzigartig. Zum einen hatte sie auf jeder Seite des Pylons nur ein einziges Tragseil (nicht eine ganze «Harfe»), zum anderen waren diese Tragseile einbetoniert, sodass die Schrägseile steife Betonstreben wurden.
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Welche Brücken-Bauweisen sind besonders heikel oder müssen besonders genau beobachtet werden?
Diese Frage kann man so nicht beantworten. Es gibt immer wieder innovative neue Bauweisen, deren Schwächen erst nach Jahrzehnten klar werden. Zum Beispiel hatte man bei der Einführung der Spannbetonbauweise um die Mitte des 20. Jahrhunderts die Spannglieder zum Teil in Hüllrohren geführt und verpresst. Später stellte sich heraus, dass die Verpressung mit Zement nicht immer perfekt gelungen war und daher die unter hoher Spannung stehenden Spannseile zu korrodieren begannen. Es liegt in der Natur der Sache, dass manche Konzeptions- und Ausführungsmängel gewisser Bauweisen erst nach einiger Zeit zutage treten. Daraus kann man dann lernen, und so ergibt sich technischer Fortschritt.
Sind Pionierbauten ein besonderes Risiko?
Ein gewissenhafter Ingenieur wird bei der erstmaligen Realisierung eines neuen Systems mit noch deutlich erhöhter Umsicht und Vorsicht planen, es gehen normalerweise ausführliche Versuche und Berechnungen und auch Prüfungen voraus, wenn man sich noch nicht auf einen etablierten Stand der Technik berufen kann. Gerade Pionierbauten hatten oft ein ganz besonders langes Leben. Noch heute gibt es zum Beispiel einzelne Exemplare der ersten Hängebrücken aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Die Schweiz hat mehr als 3000 Autobrücken und 8000 Eisenbahnbrücken. Sind letztere mehr gefährdet – Stichwort Korrosion?
Eisenbahnbrücken sind nicht mehr gefährdet als andere Konstruktionen. Korrosion ist an Strassenbrücken wegen des Tausalzeintrags sogar eine grössere Schadensursache.
Was ist mit dem berühmten Landwasser-Viadukt, dessen Pfeiler mithilfe von eisernen Stütztürmen aufgebaut wurden, die man eingemauert hat? Wie sieht man da eine etwaige Korrosion im Inneren?
Beim Landwasser-Viadukt gibt es keinerlei Bedenken, da die Steinpfeiler allein die Last tragen. Alle eingemauerten Teile der Gerüstkonstruktion haben keinerlei Funktion im fertigen Bau. Alt ist sowieso nicht gleich gefährlich. Die baustatische Analyse der Standsicherheit etablierte sich zwar erst um 1850 in der Baupraxis. Aber vorher baute man deshalb oft «überdimensioniert», weil Aspekte der praktischen Herstellbarkeit der Bauwerke viel wichtiger waren als die Optimierung des Materialeinsatzes und der Standsicherheit. Tragwerke, die vor 1850 entstanden, sind daher meist «redundant», das heisst, dass sie auch im Schadensfall nicht gleich einstürzen und eventuell auch ungeplante Lasterhöhungen ohne grössere Probleme wegstecken.
Baut man heute anders Brücken als noch vor 50 Jahren? Was kann man heute, das früher nicht möglich war?
Die meisten gängigen Systeme des Brückenbaus sind keineswegs neu, sondern existieren seit mindestens 50 Jahren, sodass man schon viele Erfahrungen damit hat. Man verfügt heute über die kumulierte Erfahrung von etwa 200 Jahren rechnerischer Nachweise im Brückenbau. Und aus jedem Schaden und aus jedem Einsturz kann man viel lernen. Eine der ersten, ganz experimentellen Schrägseilbrücken stürzte kurz nach der Einweihung 1825 ein, als sich während eines Festes auf ihr eine Menschenmenge versammelte. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass die Menschenmenge ein Vielfaches derjenigen gewesen war, die Bandhauer als zulässige Belastung seiner Brücke angegeben hatte. Es war also ein Versagen der Überwachung und nicht des Konstrukteurs.
Heutige Brücken sehen oft futuristisch und spektakulär aus. Ist das eine gewollte Ästhetik oder schlicht die sicherste Bauweise?
Eine Grossbrücke dominiert immer die umgebende Landschaft. Daher ist man bemüht, ihr ein auch ästhetisch ansprechendes Aussehen zu verleihen. Dafür macht man aber keinerlei Abstriche an der Sicherheit der Konstruktion. Ein gut gewähltes und sinnvolles Tragwerk ist oft automatisch auch ästhetisch ansprechend, gemäss der klassischen modernen Devise «Form ever follows function».
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