«Manchmal entscheidet ein Zentimeter»
Rollstuhlfahrer können die neuen SBB-Züge nicht alleine verlassen. Wieso wurde dies nicht früher erkannt? Die Spezialistin des Behindertendachverbands erklärt.
Welches Problem haben Rollstuhlfahrer mit den neuen Doppelstockzügen?
Die Rampe, die vom Eingangsbereich auf den Perron führt, ist zu steil, als dass sie ein Rollstuhlfahrer selbstständig befahren könnte. Mitverantwortlich dafür ist die enge Situation im Eingangsbereich, die es Rollstuhlfahrern nicht erlaubt, Anlauf zu nehmen. Ausserdem gibt es auf dem Trittbrett noch eine kleine Stufe. Selbst wenn ein Rollstuhlfahrer die Rampe überwinden könnte, würde ihn die Stufe stoppen.
Ist die Rampe für alle Rollstuhlfahrer nicht selbstständig befahrbar?
Betroffen sind nur Personen mit Handrollstühlen, nicht aber solche mit Elektrorollstühlen. Ich kann auch nicht ausschliessen, dass besonders kräftige Rollstuhlfahrer die Rampe manuell überwinden können. Der Mehrheit wird dies aber nicht gelingen.
Wann haben Sie festgestellt, dass die Rampe nicht selbstständig befahrbar ist?
Die SBB haben die Behindertenorganisationen immer wieder über den Stand des Projektes informiert. Wir konnten Maquetten und Pläne anschauen. Was wir seit mehreren Jahren immer wieder vergeblich gefordert haben, war eine Begehung. Erst als die befristete Betriebsbewilligung plötzlich da war, wurde kurzfristig eine Begehung organisiert. Diese fand am 22. Dezember statt. Erst da zeigte sich, dass die Rampen mit Handrollstühlen nicht ohne Hilfe befahrbar sind.
Aufgrund der Pläne konnten Sie nicht erkennen, dass die Rampe zu steil war?
Aufgrund der Typenskizzen und der Maquetten konnten wir dies nicht feststellen. Vor einer Begehung kann man nie ganz sicher sein, ob ein Hindernis wirklich überwindbar ist. Manchmal kann ein Zentimeter Höhenunterschied entscheidend sein.
Was kritisieren Sie an den Doppelstockzügen sonst noch?
Ein weiterer Punkt ist die Spiegelung des Lichts auf den Bildschirmen, welche die Informationen darauf schlecht lesbar machen. Das trifft gehörlose Personen besonders, denn diese können nicht auf die Durchsagen zurückgreifen. Dann ist die Fortbewegung innerhalb der Fahrzeuge in verschiedener Hinsicht erschwert. So gibt es kein Orientierungssystem für Sehbehinderte. Diese wissen etwa nicht, in welcher Richtung der Speisewagen liegen. Insgesamt fordern wir fünfzehn Änderungen.
Was wäre nötig gewesen, um die Orientierung sicherzustellen?
Möglich wären zum Beispiel Hinweise in Brailleschrift oder Markierungen am Boden. Solche Hilfsmittel existieren in vielen anderen Fahrzeugen. Wir gehen deshalb davon aus, dass die SBB in diesen Punkten zu Verbesserungen bereit sind.
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Video: Bombardier-Züge rollten mit Verspätung
Die Auslieferung der SBB-Doppelstöcker erfolgte mit dreijähriger Verzögerung. (30.3.2017) Video: Tamedia/Modellbahn Reviews
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Wissen Sie von all diesen Mängeln erst seit dem 22. Dezember?
Von den meisten Mängeln wissen wir erst seit der Begehung. Andere Punkte haben wir nach Einreichung des Betriebsgesuchs im Jahr 2010 bereits gerügt, doch die SBB sind nur einzelnen nachgekommen. Weil die Verpflegungszone für Menschen mit Behinderungen mit dem Rollstuhlabteil zusammengelegt werden sollte, haben wir bereits damals Beschwerde vor dem Bundesverwaltungsgericht geführt. Vor Bundesgericht erhielten die SBB zwar letztinstanzlich recht, doch haben sie unsere Forderungen in diesem Punkt inzwischen umgesetzt.
Ist die Zusammenarbeit zwischen SBB und Behindertenverbänden generell schwierig?
Die SBB haben sich schon bewegt und sind für die Bedürfnisse von Personen mit Behinderungen sensibilisiert. Es gibt durchaus Projekte, bei denen die Zusammenarbeit gut funktioniert. Die Probleme bei den Doppelstockzügen hätten sich vermeiden lassen können.
Welche Verantwortung trifft die Herstellerin Bombardier?
Möglicherweise fehlt es ihr an der nötigen Sensibilität. Das Behindertengleichstellungsgesetz muss in jedem Unternehmen im selben Mass ernst genommen werden wie die Sicherheitsvorschriften. Ob Bombardier hiermit ein Problem hat, kann ich aber nicht beurteilen.
Ihr Dachverband hat nun Beschwerde gegen die Betriebsbewilligung für die neuen Züge eingereicht. Was wollen Sie damit erreichen?
Wir wollen, dass die nötigen Anpassungen vorgenommen werden. Dies sollte möglichst rasch geschehen, denn die überwiegende Mehrheit der Fahrzeuge ist heute noch nicht gebaut. Es ist sinnvoller und wirtschaftlicher, die Anpassungen jetzt vorzunehmen, als schliesslich die fertiggestellten Fahrzeuge umzurüsten.
Nun drohen eine Verzögerung bei der Einführung der neuen Doppelstockzüge und höhere Kosten. Rechtfertigt sich da Ihre Beschwerde?
Dass es Probleme gibt und höhere Kosten drohen, ist nicht die Folge der Beschwerde, sondern der Fehlplanung bei SBB und Bombardier. Wir weisen nur daraufhin, dass das Gesetz nicht eingehalten wird. Das ist Ziel und Zweck des Verbandsbeschwerderechts.
Die SBB werden sich wahrscheinlich darauf berufen, dass die technischen Vorschriften eine Neigung der Rampen von bis zu 15 Prozent zulassen würden.
Wir bestreiten, dass das Bundesamt für Verkehr sich in dieser Frage auf die richtigen Normen stützt. Das Behindertengleichstellungsgesetz muss ausserdem auf jeden Fall eingehalten werden und geht den technischen Normen vor. Das hat das Bundesgericht in einem früheren Entscheid klar festgehalten.
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