Massentrubel und Inselfrieden
Die Schreckensherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha hat Spuren hinterlassen. Eindrücke aus der Tempelanlage Angkor Wat und dem Ferienparadies auf Koh Rong.

Viele sind schon da, andere kommen erst noch. Bunte Regenponchos lassen die frühmorgendlichen Besucher von Angkor Wat wie Kegel aussehen. Die Parade der Regenschirme, die den Rest der Besucher vor den Folgen des Monsuns schützen, gleicht aus der Vogelperspektive einem grossen Topf voller bunter Smarties. Es ist 5.45 Uhr, und die Spannung erreicht den Höhepunkt.
In wenigen Augenblicken soll die Sonne hinter den an Lotusblumen erinnernden Türmen der bekanntesten Tempelanlage in Angkor aufgehen, um wenig später im Teich davor majestätisch einzutauchen und das trübe Wasser in ein glühendes Meer zu verwandeln. Der Mystik dieses Moments steht allerdings rötlicher Schlamm entgegen. Er klebt hartnäckig an Flipflops und Turnschuhen. An diesem unwirtlichen Septembermorgen in der Nebensaison sind zwar nicht Tausende, aber gewiss über tausend Besucher aufgebrochen, um in Bussen oder knarrenden Tuk-Tuks einen einzigartigen Sonnenaufgang zu erleben.

Fünf Minuten später wird es plötzlich ruhig. Influencer richten ein letztes Mal ihre Haare und wählen den besten Selfie-Bildausschnitt. Dann beginnen sich die Kegel und Smarties zu bewegen. Der Tag bricht an, ohne dass die Sonne zu sehen wäre. Erst als die meisten in die Tempelanlagen geeilt sind, grüsst sie kurz.
Der Tag hat Symbolcharakter. Er ist so trist wie der Alltag in Kambodscha. Mit einem Bruttoinlandprodukt pro Kopf von 4000 Dollar liegt das Land im weltweiten Vergleich auf Rang 145 – und damit noch hinter Bangladesh. Eine der 8000 Fabrikarbeiterinnen in der chinesischen Textilfirma Tak Fook in Longvek müsste fünf Tage arbeiten, um sich eine 37 Dollar teure Tageskarte in Angkor leisten zu können. Zum Glück ist der Eintritt für Einheimische gratis.
Auf 400 Quadratkilometern stehen rund tausend Tempel
Angkor Wat ist nicht nur das grösste sakrale Bauwerk der Welt, es ist auch Nationalsymbol für die Khmerkultur und findet sich selbst auf Geldscheinen und der Nationalflagge. 2018 kamen 2,6 Millionen Besucher nach Siem Reap, der prosperierenden Stadt, die nur wenige Kilometer entfernt liegt und als Basislager der Touristen dient.
Würde die Rütliwiese derart zertrampelt, setzte es gewaltige Proteste und Zutrittsbeschränkungen ab. In Angkor gibt es bis jetzt nur Absichtserklärungen in diese Richtung. Zu verlockend sind die Einnahmen aus dem 400 Quadratkilometer grossen Gebiet, auf dem tausend Tempel stehen. 2018 flossen 117 Millionen Dollar. Rein theoretisch wären das zehn Dollar für jeden der 16 Millionen Einwohner. In Wahrheit ist der Geldfluss völlig unklar. Für karitative Abgaben und Steuern werden 10,70 Dollar belastet. Was mit den übrigen 26,30 Dollar geschieht, bleibt Spekulation. Laut Transparency International ist Kambodscha das korrupteste Land Südostasiens.
Der Ursprung des Übels liegt ausgerechnet im Sozialismus. Zwischen 1975 und 1979 tötete Pol Pot zwei Millionen Landsleute, um einen neuen Menschen zu formen. Ministerpräsident Hun Sen diente unter ihm als Hauptmann, der Präsident der Nationalversammlung, Heng Samrin, als Leutnant. Mit ihrer Cambodian People's Party führen sie seit Jahrzehnten einen totalitären Ein-Parteien-Staat, der auch in Angkor Wat omnipräsent ist. Ihren Konterfeis begegnet man überall.

Die charakteristischen Würgefeigen beim Ta Prohm Tempel stehen zwar noch wie zur Zeit, als Angelina Jolie hier einen Lara-Croft-Streifen drehte. Das Wurzelwerk ist aber lose geworden, weil die stetig wachsende Hotelindustrie von Siem Reap immer durstiger wird und riesige Mengen Grundwasser abpumpt. Das macht nicht nur den Bäumen zu schaffen, sondern auch den Grundmauern der Tempel, die allmählich ihren Halt verlieren. Auch die Apsaras, Sinnbilder ewiger Jugend in Reliefform, sind in die Jahre gekommen, weisen Risse auf oder bröckeln langsam ab.
Angesichts des Zerfalls scheinen Rauchverbot und Mülleimer geradezu grotesk. Viele der Tempel würden lieber heute als morgen vor der Last der Bewunderung in sich zusammenbrechen. Nur schwere Träger und Stützen verhindern dies.
Während die Sonne an diesem Samstag in Angkor Wat scheu bleibt, geht sie zwölf Stunden später auf Koh Rong umso spektakulärer unter. Das Leuchten auf der zweitgrössten Insel des Landes im Golf von Thailand ist von einer Strahlkraft, die das Meer zuerst in ein helles Gelb und später in ein feuriges Rot verwandelt. Je tiefer die Sonne sinkt, umso gleissender wird die Glut.
The Royal Sands ist das erste Luxushotel hier. Gewichtiger Investor ist der St. Galler Luzi Matzig, Vater des Reiseveranstalters Asian Trails und früherer Manager der Diethelm Reisegruppe. 700 Meter des sieben Kilometer langen Strandes gehören zum vierzig Millionen Dollar teuren Anwesen, das noch ohne Nachbarschaft auskommt. Selbst ein Handy-Netz fehlt, und ein rotes Schild verkündet, dass sich hier ein Sperrgebiet der kambodschanischen Marine befindet. Auch die Tafel ist, wie so vieles in Kambodscha, in die Jahre gekommen und steht wohl nur noch, weil sie vergessen wurde.
Vergessen ist hier auch die Staubglocke, die vor der gut einstündigen Überfahrt im Schnellboot über dem einst idyllischen Strandort Sihanoukville hängt, und wo China auf Teufel komm raus an der Seidenstrasse baut.
Auf der Insel Koh Rong hat die Zukunft noch nicht begonnen
Zementmischer und Lastwagen mit Bauschutt blockieren die Zufahrtsstrasse zur Stadt. Schneller als zehn Stundenkilometer fährt hier niemand. Dutzende Casinos und Hotels stehen bereits. Inzwischen investieren die Chinesen mehr in Kambodscha als die Regierung. Vanny, der stets lächelnde Reiseführer, ist darüber nicht glücklich. «Die Chinesen müssen erst noch lernen, was es heisst, ein Tourist zu sein», sagt er und wird für einen Moment nachdenklich. In keinem Land fällt es einem so schwer, sich nicht in das Lachen seiner Menschen zu verlieben wie in Kambodscha.
Auf der Insel Koh Rong hat die Zukunft noch nicht begonnen. Wie lange Ruhe, gute Luft und sauberes Meer noch so selbstverständlich sind wie die gute Laune von Hotelchef Livio Ranza, ist allerdings fraglich. «Erst gestern haben mich chinesische Investoren angerufen und mitgeteilt, sie würden hier gern einen Flughafen bauen», sagt er. Ranza, geboren im italienischen Bergamo, hebt flehend die Arme und richtet seinen Blick gen Himmel. Er hat allen Grund zum Beten. Immerhin hat sein Chef dieses Inselparadies für die nächsten neunzig Jahre gepachtet.
Die Reise wurde unterstützt von Travelhouse.
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