Matto regiert
Sommerroman (12) Sarah und Fabia streiten, Röbi Soland und Roli Winter streiten. Nur Franco erholt sich. Sommerzeit ist Lesezeit: Das «Bellevue»-Team hat für die fünf Wochen Sommerferien (19. 7. bis 21. 8.) den Fortsetzungsroman«Die Urne meiner Mutter» geschrieben. Die insgesamt 30 Folgen erscheinen täglich. Wer eine verpasst, kann sie nachlesen unter www.sommerroman.tagesanzeiger.ch. Was zuletzt geschah: Franco und Fabias Freundin Sarah erlebten eine wilde Nacht, was zur Folge hatte, dass Franco am nächsten Tag seine Sorgen fürs Erste vergass. Bis ein Anruf seines Vaters ihn unangenehm daran erinnerte. Er wollte darauf allein sein. Zur gleichen Zeit nahm Robert Soland Kontakt mit einem Gemeinderat auf. Franco war längst schon weg, doch noch immer standen Fabia und Sarah in der Küche. Sarah war die Erste, die das Schweigen brach: «Kannst du mir mal sagen, was mit Franco los ist?», fragte sie verärgert. «Das soll ich gerade dir erzählen?», gab Fabia genauso verärgert zurück. «Und vor allem soll ich es dir erzählen, nach dem, was du angerichtet hast!» «Was habe ich angerichtet? Gut, ich war mit Franco im Bett.» «Du meinst auf dem Küchentisch.» «Spielt es eine Rolle?» «Und ob es eine spielt. Was du gemacht hast . . . – mein Gott, du bist dermassen daneben. Was musst du dir eigentlich beweisen? Hast du es nötig, dir jeden Typ anzulachen? Ich fasse es nicht, und es geht mich im Normalfall ja auch nichts an. Aber meinen Cousin . . . ich habe wirklich gedacht, du seist meine Freundin, aber du bist nur . . . eine billige Nutte!» Bis dahin hatte Sarah, so wie sie das gerne tat, alle Vorwürfe kühl und schnippisch gekontert. Sie liebte es, wenn jemand wegen und vor ihr die Fassung verlor. Doch bei Fabia war das anders. Auch wenn sie noch so verschieden waren, sie mochte sie. Und «Nutte», das war ihr nun definitiv zu viel. Zuerst schluchzte, dann heulte sie, während Fabia distanziert daneben stand. «Es tut mir leid», stammelte Sarah schliesslich. «Es ist nicht so, wie du denkst, dass ich Franco . . . ich weiss auch nicht wieso, aber . . . ich glaube, er gefällt mir.» Fabia liess die Worte auf den Küchenboden fallen. Gleich einrenken kam nicht infrage. Alles gesagt hatte sie sowieso noch nicht. Sie wusste aber auch nicht, ob sie überhaupt alles sagen wollte. Dass Sarah vor ihr weinte, stimmte sie nun irgendwie zufrieden, und das wiederum gab ihr das Mitgefühl, um verzeihen zu können. Doch dafür war es noch zu früh. Sie sollte nur noch ein wenig leiden. «Lassen wir das für den Moment», sagte deshalb Fabia nur. «Aber sag mir doch bitte, was mit Franco los ist. Wieso ist er plötzlich abgehauen?», fragte Sarah, die genau spürte, dass sich das Verhältnis zwischen ihnen nun gedreht hatte. «Jetzt nicht, ich muss zur Arbeit. Dann kurz nach Hause, um meine Sachen zu holen, weil ich übermorgen nach Amsterdam fahre.» Flüchtig umarmte Fabia Sarah, dann war auch sie weg. «Du weisst, wieso ich anrufe, Roli.» Die geneigte Leserschaft merkt an dieser Stelle, dass die Geschichte wieder beim Telefongespräch angelangt ist, das in der letzten Folge von der Aktualität in Sarahs Küche abrupt unterbrochen wurde. Das Gespräch zwischen dem aufstrebenden Gemeinderat Roland Winter und dem Immobilienbesitzer Robert Soland. Weniger Sympathie, sondern ein gewisser Respekt prägte die Beziehung der beiden, und vor allem ein Geben und noch mehr ein Nehmen. Der Anlass für Solands Anruf war in dessen Augen ein haarsträubender. Hatten doch die «linke Tuble» zum politischen Frontalangriff auf sein Lebenswerk geblasen. So empfand das Röbeli Soland, der die Bäckersschürze schon lange abgelegt hatte. Statt tausend Brote für andere, hatte er vor Jahren damit begonnen, sich im Seefeld ein Häuserimperium zu backen. Ein kleines, wie er gerne sagte. «Ein grosses», schimpften andere. Soland nannten sie einen Immobilienhai. Wegen der hohen Mieten, die er für seine renovierten Wohnungen verlangte, was Soland wiederum wenig kümmerte. Mit Geschick und seinem Riecher für das Potenzial des Quartiers hatte er ein Häuschen nach dem anderen auf sein Monopoly-Brett gestellt. Und nun drängten die Sozis auf sein Spielfeld und verlangten, dass in allen Mietshäusern im Seefeld die Hälfte der Wohnungen zu Selbstkostenpreisen vermietet werden müssten. Ohne ihn, nicht mit Robert Soland. «Wegen des SP-Vorstosses, der morgen im Gemeinderat verhandelt wird», sagte Roland Winter. «Weil wir den abschmettern müssen», präzisierte Soland. «Weil es nicht geht, dass linke Sesselfurzer den Markt kaputtmachen. Kriegst du das hin?» Roland Winter schluckte leer, denn wenig war das nicht, was Soland von ihm verlangte. «Ich weiss nicht, es wird knapp.» «Was heisst: Ich weiss nicht?» «Röbi, ich habe es dir ja bereits gesagt. Die Kommission hat dem Vorstoss zugestimmt, und normalerweise sagt dann auch der Gemeinderat Ja . . .» «Normalerweise interessiert mich einen Dreck. Das ist eine Ausnahmesituation. Ich will keine sozialistischen Denner-Mieten im Seefeld. Wer sich hier keine Wohnung leisten kann, der soll nach Schlieren abfahren!» «Da bin ich ja deiner Meinung, Röbi. Trotzdem wird es nicht einfach. Nochmals: Wir brauchen 62 Stimmen. Die FDP und die SVP bringen 41, fehlen also 21. Die CVP und EVP machen mit, wie sie sagen, damit sind wir bei 52. AL- oder SP-Leute kannst du vergessen, bleiben noch die Grünliberalen. 12 Stimmen, das wären dann 64.» «Dann hol dir die! Wenn die Grünliberalen einen Sinn haben sollen, dann nur, wenn sie den Linken Wähler abknöpfen, um dann im Parlament möglichst liberal zu stimmen!» «Voll und ganz einverstanden, Röbi, und ich habe auch alles versucht, auch mit Erni gesprochen.» «Was hat er gesagt?» «Dass er nicht sicher ist, ob er die Fraktion hinter sich bringt.» «Roli, wenn du Stadtrat werden willst, dann bringst du die 12 Grünliberalen bis morgen auf unsere Seite!» Einigermassen perplex stand Winter danach in seiner grossen Wohnung am Zürichberg. «Der spinnt ja komplett», war das Erste, was ihm nach Solands cholerischen Ausfällen in den Sinn kam. Soll der doch mal selber schauen, wie er zu seinen Stimmen kommt, der alte Idiot. Stadtrat würde er auch ohne ihn. «Ich spinne», dachte etwas später auch Franco. Auf der anderen Seite des Sees, wo er auf dem Friedhof Manegg vor dem Grab eines Mannes stand, den wiederum die Gesellschaft als Spinner abgestempelt und wegen seines liederlichen Lebenswandels immer wieder interniert hatte. Neben Ida Bindschedler und ihren Turnachkindern war Friedrich Glauser und sein «Matto regiert» der einzige Schweizer Schriftsteller, den Franco für sein Werk bewunderte. Alle anderen, auch diesen Max Frisch, den ihm sein Lyceo-Lehrer immer andrehen wollte, fand er zu verklemmt. Um Luft zu holen, war Franco zu Glausers Grab geflüchtet. Neben dem See war der Friedhof Manegg die einzige Zürcher Sehenswürdigkeit, die ihn wirklich interessierte. Es war erbärmlich. Ein mickriges Grab unter vielen hatte der Schriftsteller gekriegt. Ein Grab, das sich kaum von Buchhalter- oder Bauarbeitergräbern unterschied. In Napoli hätte man Glauser einen kleinen Tempel mit polierten Marmorsäulen hingestellt. Auch wenn Glauser sein halbes Leben lang Morphium konsumiert hatte. Über den Friedhof wehte ein kühles Lüftlein. Wolkentürme am Horizont versprachen ein Sommergewitter, das die Zürcher dringend nötig hatten. Alle jammerten über die Hitze, die Franco im Vergleich zu Napoli als angenehm mild empfand. Er setzte sich auf die nächste Bank, eine schläfrige Ruhe erfasste ihn. Mit zu einem Lächeln gebogenen Lippen dachte er an die letzte Nacht zurück. Sarah war fast zu bestimmt vorgegangen für seinen Geschmack. Dafür wusste sie, was sie tat. «Porca miseria!» Neben ihm bellte ein Hund. Franco schreckte hoch. Die Leine führte zu einer alten Dame, die ihn vorwurfsvoll anblickte. Er musste weggeschlummert sein. Das ganze Elend sprang vor seine Augen. Wie hätte Wachtmeister Studer, Glausers Lieblingsfigur, die Asche seiner Mutter von diesem Stronzo Gaetano wieder beschafft? «Neben dem See war der Friedhof Manegg die einzige Zürcher Sehenswürdigkeit, die Franco wirklich interessierte.» Foto: Sophie Stieger
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