
Kleider für eine Woche, ein Portemonnaie, ein paar elektronische Geräte: Alles, was Cédric Waldburger besitzt, passt in zwei kleine Taschen. 64 Gegenstände sind es insgesamt, der Dreissigjährige führt sie alle auf seiner Website auf. Wenn er packt, erweckt das den Eindruck, er müsse ins Gefängnis. Doch Cédric Waldburger hat freiwillig wenig. Er ist Minimalist.
Dieser Lebensstil ist populär. Das Schweizer Fernsehen widmete ihm und Waldburger eine ganze Sendung. Viele, die heute bewusst mit weniger leben, dürften von Dave Bruno inspiriert worden sein. Der Amerikaner hat 2007 mit der «100 Things Challenge» eine Reduktion auf die 100 wichtigsten Besitztümer vorgelebt.
Bruno hat ein Haus und zählt auch den Familientisch nicht zu seinem persönlichen Besitz. Waldburger hat kein Haus und keinen Tisch. Und bisher keine Familie. Wem das zu reduziert ist: Auch das Zuhause wird vom Trend des Weniger erfasst. Der Dok zeigt eine Frau, die in einem «Tiny House» wohnt. Diese Kleinsthäuser füllen ganze Blogs und lassen sesshafte Minimalisten träumen. Und wer nicht im Minihaus leben mag, dem zeigt der Aufräumcoach immerhin, wie man richtig entrümpelt – und dabei glücklicher wird.
«Für die 68er stand nicht die Entrümpelung des eigenen Lebens im Zentrum, sondern die Veränderung der Gesellschaft als Ganzes.»
Reduktion für ein besseres Leben: Das erinnert an die sozialen Bewegungen des letzten Jahrhunderts. Auch die 68er wollten mehr sein und weniger haben – oder behaupteten es. Die Veränderung des Bewusstseins sollte den Menschen aus dem Hamsterrad von Arbeit und Konsum befreien und die natürlichen Lebensgrundlagen schonen.
Auch die Minimalisten des 21. Jahrhunderts werden als ökologische Avantgarde gefeiert: Sie verbrauchen weniger Ressourcen und weniger Platz. Ihr bewusstes Leben scheint die Antwort auf drängende Umweltprobleme zu liefern. Doch der entscheidende Unterschied liegt im Motiv. Für die 68er-Bewegung war das Ziel ein politisches. Nicht die Entrümpelung des eigenen Lebens stand im Zentrum, sondern die Veränderung der Gesellschaft als Ganzes.
Reduzieren, wo man selber profitiert
Der neue Minimalismus dagegen denkt privat. Jeder reduziert und optimiert für sich, in der eigenen Wohnung, im eigenen Kleiderschrank, im eigenen Leben. Das Versprechen, das seine Verfechter in die Welt tragen, ist ein individuelles: Löse dich von deinem überflüssigen Besitz, und du wirst fokussierter, freier und glücklicher leben. Selbstoptimierung für jedermann, jederzeit – ohne Umweg über die Politik. Mögliche positive Auswirkungen auf Mensch und Umwelt sind Nebeneffekte, wenn auch willkommene.
Auch Cédric Waldburger sagt: Wenig zu besitzen, ist für ihn Mittel zum Zweck. Der Unternehmer arbeitet und investiert in Start-ups auf der ganzen Welt. Wie praktisch, dass sein Hab und Gut ins Handgepäck passt – er fliegt jährlich Tausende von Meilen. Und schadet der Umwelt damit viel mehr, als er sie schont. Waldburger kennt diese Kritik und verweist jeweils auf seinen sonst vergleichsweise tiefen Konsum.
Das Fliegen mag er aber nicht minimieren. Denn Waldburgers Verzicht ist nicht von einem politischen, sondern einem individuellen Ideal getragen: Führe das Leben, das du führen willst, kompromisslos, radikal. Und reduziere dort, wo du davon profitierst. Das aber ist letztlich das Gegenteil von Einschränkung. Darum hilft es auch der Umwelt nicht. Oder nur zufällig.
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Maximaler Minimalismus
Immer mehr Menschen leben bewusst mit weniger. Das aber genügt nicht, um eine neue ökologische Avantgarde zu begründen.