Mehr als drei Morde – pro Stunde
Mexikos Mordrate hat den höchsten Stand in zwei Jahrzehnten erreicht. Warum der Drogenkrieg immer schlimmer wird.

2186-mal ermittelten die mexikanischen Behörden im Mai wegen Mordes. Noch nie in den 20 Jahren seit Erhebung der Daten gab es in einem Monat mehr Fälle, wie die Regierung kürzlich mitteilte. 2452 Menschen fielen den Morden zum Opfer. Das sind fast 80 pro Tag oder fast 3,3 pro Stunde – auch das ist der höchste Wert, seit die Opferzahlen separat erfasst werden.
Die Nachrichtenagentur Reuters spricht von einem «dramatischen Anstieg der kriminellen Gewalt». Tote am Strassenrand, verbrannt in Massengräbern oder aufgehängt an Brücken, um rivalisierende Gangs zu warnen, seien fast alltäglich geworden.
Verschiedene Berichte bestätigen diese Einschätzung. Laut dem jährlichen Index des US-Forschungsinstituts Fund for Peace hat sich zwischen 2016 und 2017 die Lage nirgends so stark verschlechtert wie in Mexiko. Aus Sicht des International Institute for Strategic Studies erreicht die Gewalt mittlerweile gar das Level eines bewaffneten Konfliktes. Mit 23'000 Morden habe sich Mexiko 2016 auf Platz zwei direkt hinter dem Bürgerkriegsland Syrien eingereiht.
Die offiziellen Zahlen der mexikanischen Regierung liegen zwar leicht tiefer, bei 20'792 Morden im vergangenen Jahr, doch auch sie zeigen: Das Land nähert sich dem bisherigen Allzeithoch von 2011 an.
Nachdem Enrique Peña Nieto Ende 2012 als neuer Präsident von Mexiko angetreten war, ging die Zahl der Morde zunächst zurück. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Felipe Calderón verfolgte Peña Nieto – zumindest am Anfang – keine Strategie des «Krieges gegen Drogen» und reduzierte die Militärpräsenz ein wenig. Zudem schlachtete er grosse Verhaftungen und Drogenfunde öffentlich nicht so aus wie Calderón. Doch bereits 2015 war es mit der positiven Entwicklung wieder zu Ende. Im vergangenen Jahr erreichte die Gewalt ihr höchstes Level seit Peña Nietos Amtsantritt. Und in diesem Jahr dürfte es noch schlimmer werden: In den ersten fünf Monaten ereigneten sich 9916 Mordfälle und damit 28 Prozent mehr als in der gleichen Periode 2016.
Im Rekordmonat Mai lag die Mordrate bei 23,1 Opfern pro 100'000 Einwohner. Wie hoch sie Ende Jahr sein wird, kann derzeit nur vermutet werden. Beobachter wären aber nicht überrascht, wenn die bisherige Höchstmarke von 2011 übertroffen würde. Damals ereigneten sich 19,75 Morde auf 100'000 Einwohner.
Andere Stellen gehen freilich von noch höheren Zahlen aus. Laut dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung lag Mexikos Mordrate im Jahr 2015 bei 16,35 Opfern pro 100'000 Einwohner. Damit rangierte das Land klar vor den USA (4,88), aber auch deutlich hinter anderen Ländern Süd- und Mittelamerikas wie Kolumbien (26,5), Brasilien (26,74), Venezuela (57,15), Honduras (63,75) oder El Salvador (108,64).
Während allerdings Honduras und El Salvador in den letzten Jahren leichte Fortschritte erzielt haben, steigt Mexikos Mordrate stetig an. Peña Nieto ist von seiner Ankündigung, die Militärpräsenz auf den Strassen zu reduzieren, inzwischen weit entfernt. Vielmehr macht er wie sein Vorgänger Jagd auf die Drogenbosse. Sein vermeintlich grösster Erfolg: die Verhaftung von Joaquín «El Chapo» Guzmán, dem obersten Chef des Sinaloa-Kartells, im vergangenen Jahr. 107 der 122 meistgesuchten Verbrecher seien in Peña Nietos Amtszeit neutralisiert worden, liess die Regierung verlauten. Doch die Wirksamkeit dieser Vorgehensweise wird angezweifelt.
«Die Gewaltzunahme wird durch die Zersplitterung organisierter Banden verursacht.»
Experten glauben sogar, dass das Vorgehen der Regierung kontraproduktiv ist. «Ein Grossteil der Gewaltzunahme wird durch die Zersplitterung organisierter Banden verursacht. Wenn Bosse ausgeschaltet werden, teilen sich die Gangs auf und streiten sich um die Führung», erklärte Tom Long von der University of Reading unlängst dem «Guardian». Das zeigte sich beispielsweise beim Sinaloa-Kartell: Nachdem Ignacio Coronel, der zusammen mit El Chapo zu den Anführer gehörte, von den mexikanischen Sicherheitsbehörden getötet wurde, löste sich seine ehemalige Fraktion 2010 vom Sinaloa-Kartell ab. Sie nannte sich fortan «Jalisco Nueva Generación» und wurde bei Kämpfen um Gebiete und Einfluss innerhalb kurzer Zeit selbst zu einem der mächtigsten mexikanischen Drogenkartelle.
Durch den forcierten Kampf der Regierung gegen die Drogenbanden scheint sich die Gewaltspirale nur noch schneller zu drehen. Für den Anstieg der Mordrate gibt es aber verschiedene Gründe. Eine wichtige Rolle spielt die stark gestiegene Nachfrage nach Heroin in den USA. Sie führte zu einer Produktionssteigerung der Droge in Mexiko und zu Verteilkämpfen der Kartelle um den Absatzmarkt. Durch die Legalisierung von Marihuana in einigen US-Bundesstaaten brach zudem ein wichtiger Einkommenspfeiler vieler Gangs weg, die vermehrt auf Verbrechen wie Kidnapping und Erpressung auswichen.
Die steigende Mordrate wirkt sich sogar auf die Lebenserwartung in Mexiko aus, wie eine amerikanische Studie zeigte: Ab 2000 stagnierte sie erstmals nach einem Aufwärtstrend, der sechs Jahrzehnte angedauert hatte. Und zwischen 2005 und 2010 sank die Lebenserwartung mexikanischer Männer sogar um ein halbes Jahr.
Mexiko gehört zu den OECD-Ländern mit der tiefsten Lebenserwartung. 2014 lag sie bei durchschnittlich 74,8 Jahren. Nur in acht Ländern war sie tiefer. Zum Vergleich: In der Schweiz waren es 83,3 Jahre. Hält der Anstieg der Mordrate weiter an, dürfte es Mexiko schwierig haben, diesbezüglich Fortschritte zu machen.
Mexiko muss ein Problem bewältigen, das alle Schichten der Gesellschaft betrifft. Die Korruption unter lokalen Polizeikräften konnte auch unter Peña Nieto nicht verringert werden. Und die Gewalt lähmt die sozioökonomische Entwicklung des Landes. Solange sie nicht nachlässt, wird das Problem immer grösser.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch