
Im Basler Grossen Rat hätten sich filmreife Szenen zugetragen, berichtete gestern die «Basler Zeitung». Eine Grossrätin der Grünen hatte ihr Baby mitgenommen und den Saal verlassen, um zu stillen. Danach durfte sie nicht mehr zurück. Man sei hier unter sich, sagte Ratspräsident Remo Gallacchi (CVP). Wo wäre denn die Grenze? «Bei einem Monat, bei zwei Monaten? Mit oder ohne Kinderwagen?»
Die Situation eskalierte. «Schämen Sie sich», tönte es aus dem Plenum, es bildete sich eine Traube um den Ratspräsidenten. Er nahm seinen Entscheid zurück und liess die Mutter hinein. Das Baby war inzwischen zu Hause. Harte Kritik kommt fast nur von politischen Gegnern. «Fail der sogenannten Familienpartei», twitterte ein SP-Grossrat. Seit den 90ern wolle man Mütter im Parlament, sagte eine Ratskollegin, «und nun das». Würde man die Leute auf der Strasse befragen, wäre der Tenor wahrscheinlich ein anderer.
Ratspräsident Gallacchi, der seinen Entscheid nachträglich als ungeschickt bezeichnete und bis zur nächsten Sitzung eine «pragmatische Lösung» erarbeiten will, offenbart eine Haltung, die in der Gesellschaft weitverbreitet ist. Er wollte die Mutter nicht deshalb aussperren, weil er die Parlamentsordnung wortgetreu auslegte, die nur Gewählten und Staatsmitarbeitern das Betreten des Saals erlaubt. Sondern, weil ihn das Baby störte. Und weil er der Meinung ist, dass Kinder nach Hause gehören.
Wollen wir wirklich, dass die verschiedenen Lebensbereiche strikt voneinander getrennt sind?
Er hätte auch sagen können: «Es war blöd von mir, tut mir leid. Ich bin zwar Mitglied der Familienpartei CVP, aber wir sind eben auch nicht familienfreundlicher als andere. Besonders wenn das Familienmodell nicht den wertkonservativen Vorstellungen entspricht, die viele von uns immer noch haben. Eigentlich bin ich ein offener und grosszügiger Mensch. Trotzdem stören mich Babys im Ratssaal. Und da ich der Präsident bin, interpretiere ich die Regeln.»
Stattdessen will er im Reglement präzisieren, unter welchen Umständen ein Baby in den Ratssaal darf. Damit regelt er eine von tausend Detailfragen, die man gar nie alle klären kann. Viel nützlicher wäre es, die Grundhaltung zu hinterfragen, die unser Leben prägt: Wollen wir wirklich, dass die verschiedenen Lebensbereiche strikt voneinander getrennt sind? Wir Schweizer achten stark darauf: Schüler werden nach wenigen Jahren den Noten entsprechend separiert, Kranke und Alte leben in den dafür vorgesehenen Institutionen, Kinder sind auf dem Spielplatz, in der Krippe oder zu Hause. Aber bitte nicht in der reinen Welt der Sachgeschäfte.
Regeln machen nur Sinn, wenn sie für das Funktionieren des Betriebs unverzichtbar sind.
Warum eigentlich? Weil Kinder stören? Wenn sie tatsächlich störten, würde jede Mutter und jeder Vater wohl den Raum sofort verlassen. Jede Institution ist frei, sich Regeln zu geben. Aber nach liberaler Tradition machen Regeln nur Sinn, wenn sie für das Funktionieren des Betriebs unverzichtbar sind.
Die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf sei ein Luxusproblem der privilegierten Schicht, heisst es manchmal. Einer Fabrikarbeiterin käme es nicht in den Sinn, ihr Kind zur Arbeit mitzunehmen. Das mag sein, und es ist schade. Sie sollte es versuchen und die Widerstände aushalten. Wie die Grossrätin, die nach Beendigung des Tumults gut gelaunt in die Kameras lächelte. Sie hat die Gesellschaft an diesem Abend ein Stück weitergebracht.
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Mehr als eine kurze Aufregung um ein Baby
Der Basler Grossratspräsident sperrt eine Parlamentarierin aus, weil sie ein Baby dabeihat. Dahinter steckt ein merkwürdiges Bedürfnis nach Separation.