Referendum-Fieber in ItalienMehr Demokratie dank der Pandemie
In Italien erlebt das Referendum eine Renaissance, das Unterschriftensammeln geht neu ganz einfach – für die Sterbehilfe, gegen die Jagd, für die Legalisierung von Cannabis.

Es gibt ja in diesen anspruchsvollen Zeiten Menschen, vor allem ungeimpfte und oft sehr enervierte, die sich in einer Diktatur wähnen. Sie nennen es «Gesundheitsdiktatur». Nun, in Italien hat die Pandemie dazu geführt, gewissermassen nebenbei, dass plötzlich mehr direkte Demokratie möglich ist. Das Instrument des Referendums, festgeschrieben in der italienischen Verfassung von 1947, erlebt nach langer Dämmerung eine unverhoffte und spektakuläre Auferstehung. «La Stampa» schreibt von einem «Fieber».
Für folgende Themen werden in diesen Tagen Unterschriften gesammelt, damit sie dann bald einmal dem Volk vorgelegt werden können: für straffreie Sterbehilfe, eine Legalisierung von Cannabis, ein Jagdverbot, gleich vier Anträge für eine «gerechte Justiz», und, natürlich, auch eine Initiative gegen den Green Pass, wie die Italiener zum 3-G-Zertifikat sagen. (Lesen Sie auch den Artikel «Mario Draghi setzt ganz aufs Zertifikat».)
Bis 30. September müssen die Initiatoren jeweils mindestens 500’000 Unterschriften zusammenbringen. Geprüft werden die Eingaben vom Kassationshof. Dann entscheidet das Verfassungsgericht, ob die Anträge auch rechtens sind, und setzt einen Termin für die Volksabstimmung an. Referenden sind dann gültig, wenn mindestens 50 Prozent der Stimmberechtigten daran teilnehmen.
Unterschriften neu auch online möglich
Gut möglich, dass die Italienerinnen und Italiener im kommenden Frühjahr über ein halbes Dutzend Sinnfragen ihrer Republik befinden können. Mehr Volkswillen also, mitten in der Pandemie, und gleichzeitig weniger Macht für die Parteien. Die Aussicht ist deshalb so gut, weil man seine Unterschrift nicht mehr nur an einem Stand auf der Piazza oder bei einem Notar abgeben kann, sondern neu auch online, mit einem Klick von zu Hause, über das sogenannte Spid. Die Abkürzung steht für: Sistema pubblico di identità digitale.
24 Millionen Italiener haben so eine digitale Identität, sie revolutioniert gerade die übel beleumdete nationale Bürokratie. Das Spid wurde dafür geschaffen, dass die Bürger nicht mehr für jede Bagatelle stundenlang in staubigen Ämtern verbringen müssen. In der Pandemie war es für viele ein Segen, es hat sich eingebürgert. Auch den Green Pass bekommt man mit dem Spid.
Seit Juli kann man jetzt auch politische Initiativen damit unterschreiben. Ein Parlamentarier der Referendumspartei Partito Radicale hatte den Passus in die grosse Reform zur Vereinfachung des Staatsapparats geschmuggelt, mit einem einfachen Änderungsantrag. Die Radicali, muss man dazu wissen, haben in den 1970er- und 1980er-Jahren viel bewegt in Italien. Auch das Scheidungsrecht von 1974 ging auf eines ihrer Referenden zurück.
Kampagnen in den sozialen Medien
Und so ist nun ein Boom an Referenden, befeuert von Kampagnen in den sozialen Medien. Die Vorlage der Vereinigung Luca Coscioni zur Sterbehilfe etwa, die von den Parteien im Parlament jahrelang verschleppt wurde, hat in kurzer Zeit fast eine Million Unterschriften erreicht, online und auf der Piazza. Auch die vier Justizreferenden der Radicali und der Rechten haben die nötige Marke bereits locker übertroffen: Ziel sind aber 750’000 Unterschriften, damit die Forderung noch mehr wiegt. Und Cannabis? Nach vier Tagen hatten schon 440’000 Italiener unterschrieben.
Die Gegner des Green Pass haben erst mit Sammeln begonnen. Doch selbst wenn sie Frist und Fülle der Unterschriften schaffen sollten: An der Urne hat das Anliegen keine Chance. Die Italiener sind in überwältigender Mehrheit geimpft und für das Zertifikat. Immerhin würde dann das Gebrülle von der Diktatur leiser werden, ein bisschen wenigstens.
Oliver Meiler ist Italienkorrespondent. Er hat in Genf Politikwissenschaften studiert. Autor des Buches «Agromafia» (dtv, 2021).
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