Mein doppeltes Ich
Güzin Kar macht sich über ihr Wunsch-Ich und ihr tatsächliches Ich Gedanken.

Je länger ich mit mir selber lebe, und ich lebe nun schon eine Weile mit mir selber, umso stärker wird meine Überzeugung, dass es mich doppelt geben müsse. Anders kann ich mir die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, oder vielmehr Vorhaben und Umsetzung, nicht erklären. Da ist zum Beispiel mein Gesprächsverhalten. Mein Wunsch-Ich – das gute Ich – hört dem Gegenüber mit konzentrierter Miene und einer leicht angespannten Körperhaltung, die ebenfalls Fokussierung signalisiert, zu, nickt da und dort, mehr ermunternd als bestätigend, wartet geduldig, bis der Sprechende mit einer deutlichen Pause signalisiert, dass es bereit sei für eine Antwort oder eine Zwischenfrage. Mein tatsächliches Ich kichert dem Erzählenden dauernd in den Satz, fummelt an den Haaren herum (immerhin an den eigenen), rutscht auf dem Stuhl hin und her, weil es zu jeder gelungenen Anekdote des anderen eine eigene beisteuern möchte.
Besonders eklatant ist der Unterschied zwischen meinen beiden Ichs vor wichtigen Besprechungen. Mein Wunsch-Ich schält sich früh aus dem Bett, beantwortet alle drängenden E-Mails und Anliegen, um mentalen Ballast loszuwerden, anschliessend frühstückt es leicht und gut, geht mindestens eine Stunde vor dem Termin aus dem Haus, natürlich perfekt angezogen in jenem Kleid, das mich weder einengt, noch unförmig erscheinen lässt, sodass sich meine Gedanken nicht um zwickende Nähte oder unvorteilhaftes Aussehen zu drehen brauchen, und ausgestattet mit jener Tasche, die nur ein klein wenig mehr Platz bietet als für alle benötigten Utensilien, dies für den Fall, dass mir wieder jemand ein Buch schenken möchte, das ich in der Berauschtheit der geglückten Entscheidungen, die so eine Besprechung mit sich bringt, mit höflicher und leicht übertriebener Begeisterung entgegennehmen würde. In dieser Aufmachung setzt sich mein Wunsch-Ich eine Stunde vor dem Termin in ein schönes Café und sammelt die Gedanken.
Milchschäumer und Socken
Mein tatsächliches Ich stürzt mit nassen Haaren einen Kaffee herunter, jagt nach dem Handy, einem funktionstüchtigen Kugelschreiber, packt stattdessen drei Lippenstifte und einen Milchschäumer ein, weil dessen Batterien bald erneuert werden müssen, ich mir aber Batteriegrössen und -modelle nicht merken kann, aber zu gehetzt bin, um die vorhandene Batterie als Mustervorlage aus dem Gerät herauszuoperieren. Wenn ich Pech habe, surrt der Milchschäumer mitten in der Besprechung los, in einer Riesentasche, in der sich auch halb benutzte Taschentücher befinden, ein verwaistes Ladekabel, zusätzlich zu den drei Lippenstiften ein vierter, den ich längst verschollen glaubte und ein Paar Socken. In solchen Momenten reicht mein Wunsch-Ich meinem tatsächlichen Ich eine Liste mit Ratgeberliteratur, die einem beibringt, wie man Umhängetasche, Wohnung und Leben aufräumt.
Auch in Bezug auf Schlagfertigkeit gibt es mich in doppelter Ausführung. Das Wunsch-Ich hat auf sämtliche Beleidigungen, Sticheleien, unangemessene Fragen und Bitten das richtige Gegengift in Form von Antworten bereit, die gerade so spitz sind, dass sie sowohl amüsieren als auch düpieren. Ich brauche es kaum zu erwähnen, dass auch dem tatsächlichen Ich die perfekte Parade einfällt, nur leider mit erheblicher Verspätung, sodass ich mitten in der Nacht aufwache und – mich über die verpasste Gelegenheit ärgernd – mir ausmale, wie ich den Unflätigen bei nächster Gelegenheit blossstellen würde. Währenddessen schläft mein Wunsch-Ich tief und entspannt.
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