Chaos in den USAMenschen hungern, aber Ernten werden vernichtet
Nur noch mithilfe der Nationalgarde kann Amerika mehr als 50 Millionen Bedürftige mit frischer Nahrung versorgen. Derweil landen Millionen Tonnen Agrarprodukte im Müll.

Im Mittleren Westen schütten Bauern jeden Tag 1,3 Millionen Liter Milch in Jauchegruben und Abwässer. In Idaho pflügen Bauern eine Million Zwiebeln unter. In Florida und in Kalifornien, wo dank günstigen Klimas rund ums Jahr produziert wird, verrotten Salate, Gemüse und Früchte auf den Feldern. Es lohnt sich für viele Bauern nicht mehr, zu ernten.
Die grossen Abnehmer vor der Wirtschaftskrise – Restaurants, Hotels, Schulen und Grossverteiler – mussten schliessen oder leiden unter einer geringeren Nachfrage. Während aber querbeet frische Nahrungsmittel zerstört werden, sind mehr und mehr Amerikaner dringend auf eine Hungerhilfe angewiesen, wie sie seit des Zweiten Weltkriegs nicht mehr beobachtet wurde.
Weder in der Ölkrise der 1970er-Jahre noch in der schweren Rezession von 2008 oder während der grossen Brände der letzten drei Jahre habe Kalifornien mit einer ähnlichen Versorgungskrise gekämpft, sagt David Goodman, Geschäftsführer der Redwood Empire Food Bank, einer der grössten Lebensmittelhilfe-Organisationen. «Bis vor kurzem suchten nur die ganz Bedürftigen unsere Hilfe. Doch jetzt ist es anders. Jedermann ist betroffen.»
Massen strömen zu den Essenstafeln
Die Food Bank versorgt ein Sechstel der Bevölkerung im nördlichen Kalifornien mit Gemüse, Eiern, Fleisch und Konserven, stösst aber zusehends an die Leistungsgrenzen. Denn zahlreiche Freiwillige, die vor der Corona-Pandemie beim Verteilen der Lebensmittelpakete geholfen haben, bleiben zu Hause. Die strikte Ausgangsverordnung und noch mehr die Angst, sich anzustecken, hat Hunderte von Food Banks im ganzen Land zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt in eine personelle Notlage gebracht. Es sind nicht mehr nur Bedürftige, die Hilfe brauchen, sondern auch die mehr als 16 Millionen Arbeitslosen, die kürzlich auf die Strasse gestellt wurden.
«Die Rezession von 2008 ist nichts im Vergleich dazu.»
In Kürze dürfte die Lage dramatisch schlimmer werden, rechnen doch Ökonomen mit bis zu 25 Millionen Erwerbslosen; die meisten ohne finanzielle Reserven. «Die Rezession von 2008 ist nichts im Vergleich dazu. Dies ist weit gravierender», sagt Jerry Brown von der St. Mary’s Food Bank in Phoenix (Arizona). Hier stehen inzwischen jeden Tag 1500 Menschen in der Warteschlange, viermal mehr als vor zwei Wochen. Die Zahl der Freiwilligen ist derweil von 250 auf unter 50 gesunken.
Die Nationalgarde muss helfen
Zu Hilfe gekommen ist die Nationalgarde. In Kalifornien, Arizona und anderen Bundesstaaten stellen seit letzter Woche Tausende Gardisten die Nahrungspakete zusammen, verteilen sie und regeln den aufkommenden Verkehr. Im texanischen San Antonio bildete sich kürzlich eine Warteschlange mit über 10’000 Autos, als eine regionale Food Bank zum ersten Mal frisches Gemüse, Früchte und Fleisch verteilte.
Die Hilfesuchenden durften das Auto nicht verlassen, sondern mussten stundenlang warten, bis sie bei einem Verteilstand vorfahren und die Lebensmittel mitnehmen konnten. Vielerorts mussten die Behörden einspringen, weil die Food Banks mangels Freiwilliger und Spenden schliessen mussten.
Dass Millionen keine Ernährungssicherheit haben, ist eine traurige Realität der heutigen USA. Vor der Krise konnten sich 37 Millionen Amerikaner, ein Achtel der Bevölkerung, nicht ausreichend mit guter Nahrung versorgen, um ein aktives und gesundes Leben zu führen. Diese Zahl dürfte sich nun, gemessen an den Meldungen der Food Banks, stark erhöhen und möglicherweise verdoppeln. Jedes vierte afroamerikanische Kind leidet unter einer mangelhaften Ernährung.

Gleichzeitig werden Tonnen an frischen Lebensmitteln vernichtet. «Es zerreisst einem das Herz», sagt Paul Allen, Mitbesitzer des Agroriesen R.C. Hatton in Florida. Der Betrieb musste in den letzten Wochen mehrere Millionen Tonnen Bohnen und Grünkohl unterpflügen, weil die Nachfrage fehlte. Zwar spenden die meisten Betriebe so viel Frischware wie möglich für Food Banks, doch ist das Verteilnetz nicht dafür eingerichtet.
750’000 Eier vernichtet – jede Woche
Vielmehr transportieren Hunderte Lastenzüge die Ware über Nacht an Grossabnehmer wie Walmart, Starbucks und McDonalds sowie an Hotel- und Restaurantketten und Schulen, die die Lieferung schnell verarbeiten können. Doch nun mussten all diese Abnehmer schliessen oder die Bestellungen um bis zu 90 Prozent zurückfahren.
Die Lage für viele Bauern, vor allem Familienbetriebe, war schon vor der Krise kritisch. Sie wird schlimmer: Eine Hühnerfarm in Florida wirft jede Woche 750’000 Eier weg und denkt daran, sämtliche Tiere zu töten. In Wisconsin, dem Milch- und Käseland der USA, müssen mehr als eine Million Liter Frischmilch weggeworfen werden, und mehrere Fleischfabriken im Mittleren Westen mussten schliessen, weil zu viele Arbeiter am Virus erkrankt waren.
Eine rasche Entspannung ist nicht zu erwarten. Die westlichen Bundestaaten erwägen bereits, die Quarantäne bis Ende Juni zu verlängern, womit auch die nächste Ernte gefährdet wäre. Je länger die Sperre dauert, desto gravierender auch die Folgen für das Restaurationsgewerbe. Gemäss der UBS ist damit zu rechnen, dass jedes fünfte der über eine Million Restaurants die Krise nicht überleben wird.
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