Millionen könnten die Staatsbürgerschaft verlieren
Die Angst geht um im indischen Bundesstaat Assam: Die Menschen fürchten die Staatenlosigkeit, betroffen sind vor allem Muslime.

Es gab Zeichen. Vorboten dieser grossen Unruhe, die sich nun im Osten Indiens verbreitet. Da war zum Beispiel die Nachricht über den Tod von Hanif Khan. Der 40-jährige Mann hatte sich im Januar erhängt. Er war verzweifelt, weil er in der neuen Staatsbürgerliste seinen Namen nicht fand.
Er hatte Angst vor Abschiebung, sah keinen Weg mehr. Vielleicht war ihm nicht klar, dass das neue Staatsbürgerregister, kurz NRC genannt, damals noch nicht endgültig war, dass er dagegen Einspruch einlegen konnte. Offenbar hatte er jede Hoffnung verloren, je seinen Namen darin zu lesen.
Die Angst treibt jetzt Millionen Menschen im Osten Indiens um, wenn sie an diese Liste denken. Seit Ende Juli liegt eine neue Fassung vor, sie gilt als «abschliessender Entwurf», ist aber noch nicht rechtskräftig. Mehr als drei Jahre lang haben 55'000 Staatsdiener daran gearbeitet. Sie haben 65 Millionen Papiere ausgewertet. Es sollte endlich Klarheit darüber herrschen, wer hier im Bundesstaat Assam Inder ist – und wer nicht.
Vor allem Muslime betroffen
Heute ist nur so viel klar: Wer nicht im Register steht, gilt künftig nicht mehr als Inder. Dabei geht es nicht um ein paar Einzelfälle, die Dimension ist gewaltig: Vier Millionen Bewohner in Assam sind betroffen, vor allem Muslime. Gleichsam über Nacht hat sie die Bürokratie in die Schwebe katapultiert, sie sind mutmasslich staatenlos. Das erzeugt Spannungen, deren langfristige Auswirkungen noch gar nicht zu greifen sind.
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Warnende Stimmen werden laut, dass die Lage an die Rohingya-Krise im benachbarten Burma erinnere. Auch dort will der Staat einem Teil der muslimischen Minderheit keine Bürgerrechte zugestehen. Eine brutale Offensive der Armee gegen Rebellen provozierte den Exodus von nahezu einer Million Vertriebener. Von einer solchen Eskalation ist Indien weit entfernt, doch Assam ist auch eine Region, der Gewalt gegen Zuwanderer keineswegs fremd ist. 1983 wurden muslimische Zuwanderer vom Mob gejagt, mehr als 2000 Menschen starben. Das ist bei den Nachkommen nicht vergessen.
33 Millionen Bewohner Assams waren aufgerufen, ihre Wurzeln durch Dokumente nachzuweisen.
Das fruchtbare Assam, bekannt für seinen exzellenten Tee, ist ein Staat, der viele Ethnien vereint, die Mehrheit ist hinduistischen Glaubens. Zuwanderung aus anderen Teilen Indiens, aber auch aus den überwiegend muslimisch bevölkerten Gebieten, die heute zu Bangladesh gehören, liess die Bevölkerung über Jahrzehnte anwachsen. Das hat den Argwohn vieler einheimischer Assamesen geschürt. Die Migration reicht teilweise weit zurück, bis in die Zeit der britischen Kolonialherrschaft, als muslimische Bengalen ermuntert wurden, von Süden nach Norden zu ziehen. Damals gehörten all diese Gebiete zu Britisch-Indien, heute ist das anders, weil Bangladesh ein unabhängiges Land ist.
33 Millionen Bewohner Assams waren zuletzt aufgerufen, ihre Wurzeln durch Dokumente nachzuweisen. Entscheidend ist der 25. März 1971: Familien, die belegen können, dass sie bereits vor dem Stichtag in Indien lebten, haben Anspruch auf eine Staatsbürgerschaft, alle anderen nicht. Damals erklärte Bangladesh nach einem verlustreichen Krieg seine Unabhängigkeit. Westpakistan wollte die Abspaltung Ostpakistans mit Gewalt verhindern, doch es verlor den Konflikt, weil Indien an der Seite der Bengalen intervenierte. In blutigen Wirren flohen Hunderttausende, die meisten siedelten sich in Assam an.
Verwirrende Listen
Wer nicht auf der Liste steht, kann bis Ende September Einspruch erheben. Bei vielen Betroffenen macht sich aber schon jetzt Panik breit. Jene, die durchs Netz fallen, müssen im Extremfall damit rechnen, abgeschoben zu werden. Sie rutschen in die Staatenlosigkeit, zumal Bangladesh kaum gewillt ist, Hunderttausende ethnische Bengalen als Bürger aufzunehmen. Schon jetzt ist das Land mit den Rohingya-Flüchtlingen aus Burma überfordert. Auch sie haben bengalische Wurzeln, leiden unter den Nachwehen eines komplizierten kolonialen Erbes, das Südasien noch immer belastet.
Der indische Staat versucht, Ängste zu mindern. «Auf der Grundlage des Entwurfs geht es nicht darum, irgendwen in Internierungslager zu zerren», beschwichtigte ein hochrangiger Beamter in Assam. Doch das Vertrauen in den Staat ist angeschlagen. Das spiegelt sich in Vorwürfen gegen die in Assam regierende hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party, die auch auf nationaler Ebene die Macht besitzt. Kritiker klagen, die Partei betreibe Politik auf Kosten von Muslimen. Hindu-Fanatiker fühlen sich zur Hetze ermuntert, seitdem die Partei 2014 die Wahlen gegen die Kongresspartei der Gandhi-Dynastie gewann. Die Bemühungen der Modi-Regierung, Eiferer zu zügeln, gelten als wenig ambitioniert.
Ein Bauer fand seine drei Söhne auf der Liste, aber nicht seine Frau und Tochter.
«Schafft sich Indien nun seine eigenen Rohingya?» titelte die «New York Times» ein Meinungsstück des indischen Publizisten Hartosh Singh Bal. Der Streit ist in vollem Gange, die Debatte um illegale Einwanderung ist allerdings älter. Schon 2008 war eine Organisation aus Assam vor das Verfassungsgericht gezogen worden mit dem Vorwurf, dass mehr als vier Millionen Wähler illegal registriert worden seien; sechs Jahre später ordnete das Gericht an, der Staat müsse seine Staatsbürgerliste aktualisieren.
Indische Medien haben nun auf absurde Fälle aufmerksam gemacht, etwa das Schicksal der Bauernfamilie von Sayed Ali. Im Entwurf der Bürgerliste von 2017 fand er seine drei Söhne, aber nicht seine Frau, seinen Vater und auch nicht seine Tochter. Sechs Monate später, am 30. Juli, sah es zunächst so aus, als könnte er aufatmen: Da waren sie endlich, die Namen seines Vaters, seiner Frau und auch der von ihm selbst. Doch dann der Schock: Seine Söhne, die vorher auf der Liste gestanden hatten, tauchten jetzt nicht mehr auf. Seine Tochter fehlt in beiden Listen.
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