Mit der Kesb am Krankenbett
Neue Zahlen zeigen: Nur wenige Schweizer haben eine Patientenverfügung oder einen Vorsorgeauftrag. Die Folgen sind einschneidend.

Am letzten Tag seines ersten Lebens machte sein Herz nicht mehr mit. Nach einem schweren Infarkt musste der 56-jährige Mann reanimiert werden. Auf der Intensivstation des Spitals Männedorf ZH wurde er künstlich beatmet. «Es war zunächst unklar, ob er die Wiederbelebung ohne Hirnschaden überstanden hatte», sagt Dominik Schneider, leitender Arzt in Männedorf. «Mit der Zeit stellte sich heraus, dass er vermutlich tatsächlich grössere Hirnschäden erlitten hatte und nicht ohne die lebenserhaltenden Maschinen wird leben können.»
Würde er dieses zweite Leben, angeschlossen an Schläuche, überhaupt leben wollen? Zwei Tage lang rangen seine Frau und die erwachsenen Kinder um eine Antwort. Dann entschieden sie, die lebenserhaltenden Maschinen abzustellen. Er starb nach wenigen Stunden.
Fälle wie diesen gibt es viele. Nur wenige Leute haben einen Plan, wie man mit ihnen verfahren soll, wenn der Tag X kommt und sie selber nicht mehr entscheiden können. Sie füllen keine Patientenverfügung aus, die ihre Wünsche festhält, zum Beispiel, ob sie einer Beatmung zustimmen – oder nicht. Sie setzen keinen Vorsorgeauftrag auf, der regelt, wer für sie Entscheidungen treffen darf, wenn sie «urteilsunfähig» sind, wie es in der Mediziner- und Juristensprache heisst.
Jetzt gibt es erstmals Zahlen dazu, wie viele Menschen in der Schweiz rechtlich vorgesorgt haben. Eine repräsentative Umfrage des Marktforschungsinstituts GFS im Auftrag der Pro Senectute, die der SonntagsZeitung vorliegt, zeigt: Nur jeder Fünfte hat eine Patientenverfügung und gar nur jeder Zehnte einen Vorsorgeauftrag erstellt.
Im Gesetz verankert
Diese beiden Instrumente sind im Erwachsenenschutzgesetz verankert, das 2013 in Kraft trat. Sie sollen sicherstellen, dass man über das eigene Schicksal bestimmen kann, auch wenn man sich selbst nicht mehr äussern kann. «Viele kennen diese Möglichkeiten zur Selbstbestimmung nicht», sagt Werner Schärer, Direktor von Pro Senectute Schweiz. «Mit einem Vorsorgeauftrag kann zum Beispiel jede erwachsene Person selber entscheiden, wer im Fall einer unfall- oder krankheitsbedingten Urteilsunfähigkeit im Alltag für sie sorgt, ihre Finanzen regelt und sie in rechtlichen Angelegenheiten vertritt.»
Gerade einmal 48 Prozent gaben in der GFS-Umfrage an, dass sie wissen, was ein Vorsorgeauftrag ist. Und nur wenigen dürfte bewusst sein, was es heisst, wenn dieses Dokument fehlt und man den ärztlichen Befund «urteilsunfähig» hat – dann sieht das Gesetz vor, dass sich die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) einschaltet und einen Beistand bestimmt, der mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet ist. «Er entscheidet zum Beispiel über die Wohnsituation und die Betreuung, er bezahlt die Rechnungen und verwaltet das Vermögen», sagt Micael Schweizer, Notar im Kanton Bern. «Ein Vorsorgeauftrag empfiehlt sich für alle, die möglichst wenig mit der Kesb zu tun haben wollen.»
Probleme für Paare
Selbst verheiratete Paare könnten böse Überraschungen erleben. «Der Partner darf ohne Vorsorgevertrag keine ausserordentlichen Finanzentscheide treffen», sagt Schweizer. «Er darf zum Beispiel keine gemeinsame Liegenschaft verkaufen, und er darf die gemeinsame Wohnung nicht kündigen.»
Wie einschneidend die Folgen ohne rechtliche Vorsorge sein können, musste eine junge Deutschschweizerin erfahren. Ihr Onkel hatte im Tessin einen Rustico erworben und in jahrelanger Arbeit zu einem Bijou umgebaut. Sie machte dort mit ihren kleinen Kindern oft Ferien, zur Freude des Onkels. Dann wurde er schwer krank, Befund «urteilsunfähig». Seine Nichte wollte den Rustico kaufen und wäre dazu bei einem normalen Preis auch in der Lage gewesen. Doch der von der Kesb eingesetzte Beistand entschied, dass das Ferienhaus an den Meistbietenden veräussert wird, da die Heimkosten des Onkels bezahlt werden müssten. Den Zuschlag erhielt ein anderer, der bereit war, einen völlig überhöhten Preis zu zahlen.

Dass sich die wenigsten für den Ernstfall rüsten, überrascht Experten nicht. «Viele Leute wollen sich bewusst nicht mit diesem Thema befassen», sagt Diana Wider, Generalsekretärin der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (Kokes). «Niemand setzt sich gern mit den letzten Fragen seines Daseins auseinander.» Doch die Frage, was passieren soll, wenn man selber nicht mehr entscheiden kann, betrifft nicht nur betagte Menschen, die in der Demenz versinken. Ein schwerer Unfall oder Hirnschäden nach einem Sturz – das kann jeden treffen.
Beistände entscheiden mit
Das zu verdrängen, schafft das Problem nicht aus der Welt, dass am Schluss jemand bestimmen muss, wie es weitergeht. So kommen die von den Behörden eingesetzten Beistände selbst bei medizinischen Fragen zum Einsatz. Etwa, wenn sich die Angehörigen nicht einig sind oder es keine Familienmitglieder gibt. «Solche Entscheide sind für Beistände enorm schwierig», sagt Kokes-Generalsekretärin Wider. «Man kennt die Betroffenen nicht persönlich, man kann sie nicht fragen, aber man muss wichtige Fragen für sie beantworten.»
Wider spricht aus Erfahrung. Sie hat den Fall einer dementen Frau erlebt. «Bei ihr kam die Frage auf, ob man ein Bein amputieren soll oder nicht. Selbst entscheiden konnte sie nicht mehr, es gab auch keine Patientenverfügung und keine direkten Angehörigen», sagt Wider. «Also musste ich die Entscheidung übernehmen. Das war extrem schwierig. Für mich war am Ende die Einschätzung der Ärzte ausschlaggebend.» Wider stimmte der Amputation zu.
Ein Vorsorgeauftrag und eine Patientenverfügung würden für mehr Selbstbestimmung sorgen. Doch Spitalärzte wie Dominik Schneider haben es immer wieder mit Patienten zu tun, die darauf verzichtet haben. Zum Beispiel auf der Notfallstation. «Diese Menschen kommen oft mitten aus dem Leben», sagt Schneider. «Sie haben sich noch nie mit dem Gedanken befasst, dass es ihnen schlecht gehen könnte.» Es brauche unbedingt mehr «Aufklärung und Sensibilisierung», sagt Werner Schärer von Pro Senectute. «So können alle entlastet werden – Behörden und Angehörige.»
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