
Als vor 100 Millionen Jahren noch gewaltige Dinosaurier auf der Erde herumstapften, entwickelten sich im Schatten der urzeitlichen Giganten die ersten Ameisen. Mit grossem Erfolg haben sich die kleinen Krabbler im Laufe der Evolution rund um den Globus verbreitet. Heute gibt es weltweit rund 15'000 Arten von ihnen, 130 davon auch in der Schweiz. «Würde man alle Ameisen wiegen, die man auf der Welt findet, hätte man das Gewicht der gesamten Erdbevölkerung», sagt Laurent Keller von der Universität Lausanne. Es gebe sie überall – ob in der Sahara oder in Sibirien.

Ameisen sind soziale Insekten. Interessen des Einzelnen zählen bei ihnen nicht, Zusammenhalt und Gemeinschaft werden dagegen grossgeschrieben. Zum Teil leben die Sechsbeiner in riesigen, stets perfekt organisierten Verbänden von bis zu 30 Millionen Individuen. «Mich fasziniert ihr Gesellschaftssystem», sagt der renommierte Ameisenwissenschaftler, der in der Romandie «Monsieur Fourmis» genannt wird. Am 26. Oktober überreicht ihm Bundesrat Johann Schneider-Ammann bei einer öffentlichen Veranstaltung an der Universität Lausanne den begehrten Schweizer Marcel-Benoist-Preis, der mit 50'000 Franken dotiert ist.
Laurent Keller erforscht das Verhalten der Ameisen seit mehr als 30 Jahren, er hat 300 wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht, drei Bücher geschrieben und mehrere Preise erhalten. Dennoch passt der emsige Ameisenwissenschaftler ganz und gar nicht ins oft zitierte Klischee über Forscher, die weltfremd, zurückgezogen und introvertiert hinter ihren Büchern oder im Labor hocken. Im Gegenteil: Keller ist gesprächig, setzt sich für seine Mitarbeiter ein, kämpft für sie, damit sie ebenfalls Professoren werden und Preise gewinnen und lädt sie im Winter in sein Chalet zum Brainstorming und Skifahren ein. Dabei dient er auch dem einen oder anderen als Skilehrer.
Originell und unkonventionell
Bei unserem Treffen im dritten Stock des Universitätsgebäudes Biophore mit Blick auf grüne Wiesen sitzt Keller mit bunter Freizeitkleidung und Turnschuhen in seinem kleinen, bescheidenen Büro auf einer altrosa, etwas in die Jahre gekommenen Sofagarnitur. Dass er dereinst einer der bekanntesten Wissenschaftler in der Schweiz auf dem Gebiet der Evolutionsbiologie werden und internationalen Ruf geniessen würde, hätte sich der heutige Direktor des Instituts für Ökologie und Evolution an der Universität Lausanne früher nie träumen lassen. Als Kind wollte er Mopedmechaniker werden. Doch als es im Gymnasium dann so gut lief, hatte er sich zwischen einem Studium der Physik, Medizin, Psychiatrie oder Biologie entscheiden müssen.
War einer aus der Familie auch als Forscher bereits tätig? «Nein, überhaupt nicht!», antwortet er. Sein Vater war Coiffeur. Und auch seine beiden Schwestern haben diesen Beruf erlernt. Damit es keinen Streit gebe, zu wem er gehe, schneide er sich die Haare lieber selber schnell zwischendurch im Büro, sagt der 54-Jährige mit einem verschmitzten Lachen eines Lausbuben. Die Frisur sehe dadurch stets etwas anders aus, nicht alles wäre symmetrisch und gleich lang.
«Diese kleinen, grossartigen Kreaturen können einen immer wieder überraschen.»
Genau diese Art von Pragmatismus zeichnet den unkonventionellen Professor auch in seinen Forschungsarbeiten aus, bei denen es darum geht, neue, interdisziplinäre und kreative Ansätze zu finden. Und alte, eingetretene Pfade zu verlassen. So arbeitet Keller auch mit Roboterforschern an der ETH Lausanne zusammen. Das Ziel dabei ist es, dass Roboter mit der Zeit immer mehr kooperieren und effizient zusammenarbeiten. Im Kollektiv sollen sie komplizierte Aufgaben lösen, die sie allein nicht schaffen würden: zum Beispiel Nahrung finden und das den anderen mitteilen. Nur die Besten von ihnen überleben, also diejenigen mit den geeignetsten genetischen Algorithmen, die anderen werden aussortiert. Ganz nach dem Vorbild der Evolution: «survival of the fittest».
Lässt sich das Leben in einer Stadt eigentlich mit dem in einer Ameisenkolonie vergleichen? «Ja, es gibt viele Parallelen», sagt Keller, der dies auch bei seinem Vortrag während der Preisverleihung zum Thema machen wird und sofort viele Beispiele parat hat. Etwa die Metropole New York, in der Millionen Menschen leben. Auch dort müssen mithilfe von perfekter Arbeitsteilung gemeinsam aufwendige Strassen und anspruchsvolle Häuser gebaut werden, und Lebensmittel kommen von ausserhalb. Aber auch zur Landwirtschaft lassen sich einige Vergleiche zu unserer Kultur ziehen. Denn Ameisen züchten Pilze in ihren Nestern und halten Blattläuse als Nutztiere, um sie bei Bedarf zu melken. Sie tragen diese sogar von einem Ort zum anderen, ähnlich wie wir bei der Viehzucht.
Hinzu kommt, dass Ameisen die Verwendung von Antibiotika schon zu Urzeiten entdeckt haben. Denn sie verfügen über spezielle Strukturen an der Körperoberfläche, die Antibiotika bildende Bakterien beherbergen und die Ameisen somit vor Parasitenbefall schützen. Eine geniale und äusserst nützliche Erfindung der Evolution.
«Diese kleinen, grossartigen Kreaturen können einen immer wieder überraschen», sagt der Wissenschaftler. So war er etwa vor ein paar Jahren erstaunt, als sein Team einen Riesenstaat mit Millionen von Nestern ausfindig machte, der sich von Italien über Frankreich und Spanien bis hinter Portugal erstreckte – über mehr als 6000 Kilometer, immer der Küste entlang. Am aussergewöhnlichsten war, dass unter all den Ameisen Frieden herrschte – die sonst üblichen Revierkämpfe blieben aus. «Man konnte eine Ameise aus Italien in ein spanisches Nest setzen», sagt er. Diese sei ohne weiteres «eingebürgert» worden und habe ihre Arbeit dann dort gemacht.
Facebook der Ameisen
Obwohl Ameisen ein relativ kleines Gehirn haben, profitieren sie von der Weisheit der vielen, der sogenannten Schwarmintelligenz. Wie diese im Einzelnen funktioniert, wer wen wann und über was informiert, gibt dem Lausanner Evolutionsbiologen immer noch Rätsel auf. Deshalb hat er gemeinsam mit seinem Team 900 Ameisen mit winzigen Etiketten auf dem Rücken ausgestattet. Ähnlich wie ein Strichcode im Supermarkt lassen sich die Tiere in der Kolonie damit identifizieren. Mithilfe von Kameras war es möglich, die einzelnen Bewegungen der Individuen aufzunehmen und später am Computer zu rekonstruieren. Sie seien viel besser als Facebook, da alles öffentlich gewesen sei, sagt Keller und grinst.
Während 41 Tagen haben die Lausanner die Ameisen im Visier gehabt und das Networking im Detail analysiert. Sie konnten zeigen, dass sich die Jobs der Ameisen innerhalb einer Gruppe mit der Zeit verändern. Die Jüngsten kümmerten sich um die Königin, die Älteren hatten dagegen die weitaus gefährlicheren Jobs. Sie erkundeten draussen die Umgebung und suchten Futter. «Daraus könnte unsere Armee auch etwas lernen», erklärt der Forscher. Denn sie nehme ausgerechnet die Jungen als Soldaten.

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Monsieur Fourmis
Laurent Keller erforscht das komplexe Gesellschaftssystem der Ameisen. Sie hätten lange vor uns schon Viehzucht, Strassenbau und den Einsatz von Antibiotika gekannt.