Mord und Ekstase im Appenzellerland
Etappe 2 führt das Bellevue ostwärts ins Appenzell. Wir tun, was alle Touristen tun, und schauen uns in der Stiftsbibliothek in St. Gallen alte Bücher an.

Es ist 7.30 Uhr in der Früh. Acht Pensionierte fitten im Pool, als ich zusteige. Die Herren mustern mich, aus ihren Mündern kommt ein «Guten Morgen», das klingt wie ein «Was willst du denn hier?». Das Gleiche wie ihr, dänk: einen guten Start in den Tag mit Wassergymnastik. Die Arme schwingen im Wasser auf und ab, die Beine hüpfen, und die Kursleiterin sagt: «Passt auf eure Hüftgelenke auf.» Niemand lacht.
Wir sind im Appenzell angekommen. Bekannt für schöne Landschaften und gutes Essen. Und beliebt zum Kuren. Also hat der Bellevue-Tourist im Kurhotel Hof Weissbad eingecheckt. Im Speisesaal schwärmt ein Gast von den grossen Räuschen im WK in den 80er-Jahren. Eine Frau sagt, zu ihrer Zeit seien Mischehen noch verpönt gewesen. Im Bad steht ein köcherähnliches Ding am Boden - nein, es ist kein Schirmständer. Ja, es hat in diesem Hotel eher ältere Menschen, viele mit Krücken (der Köcher!), und Sätze werden meist zweimal gesagt. Doch es ist ein prima Ort, um sich zu erholen. Erholen von unseren Strapazen, denn wir waren auf unserer zweiten Etappe lange unterwegs.
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Gestartet sind wir am Vortag in Schaffhausen, der Weg auf der Grand Tour führt uns nach Stein am Rhein (schön, aber rentnerlastig), vorbei an Salenstein (schön, aber villenlastig), weiter nach Altnau (schön, aber apfellastig), bis wir schliesslich in Arbon am Bodensee einlaufen (schön, und kein Aber). Ein See, so gross wie das Meer. Eine Altstadt, so klein wie Agasul. Aber mit einem Softeisstand. Der kultivierte Reiser weiss: Jede Stadt, die etwas auf sich hält, hat einen Softeisstand.
Die Arboner Aberlosigkeit bedarf einer Würdigung. Anruf beim Stadtpräsidenten. Andreas Balg (FDP) packt gerade, es geht in die Ferien nach Brissago ins Tessin.
Der schönste Ort in Arbon?
Das ist das Strandbad morgens früh um sechs. Da ist es noch ruhig, und ich gehe dann paddeln.
Der hässlichste Ort in Arbon?
Da fällt mir keiner ein.
Ach, kommen Sie!
Dann vielleicht das: Wenn am Sonntagmorgen nach einem Fest die Seepromenade voller Abfall und Dreck ist.
Sie bekommen 10 Millionen Franken, wo investieren Sie das Geld in der Stadt?
Die eine Hälfte in die Altstadt, mit der anderen Hälfte würde ich Schulden abbauen.
Was ist ihr Schweizer Lieblingsort?
Arbon.
Haha. Sie kandidieren 2019 ja nicht mehr. Sie dürfen undiplomatisch sein.
Auch dann: Arbon.
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Kapellbrücke, Matterhorn, Jungfraujoch, Rheinfall - allesamt Must-haves vieler Schweizreisender, und wir Schweizer sagen: Ja, kann man machen. Dass auch St. Gallen zu den touristischen Höhepunkten gehört, überrascht eher. Die Popularität hat einen Grund: die Stiftsbibliothek, 1300 Jahre alt, ein Ort der Bücher und kühlen Temperaturen. 12 Franken kostet der Eintritt, rein kommt der Gast nur mit Pantoffeln, Fotos sind strikte verboten - zum Wohl der Bücher.
Es ist ein Raum mit viel Holz und noch mehr Büchern. Nur in einem darf man blättern: im Gästebuch. Dort schreibt Amanda aus den USA: «Die Bibliothek rührte mich zu Tränen.» Sarah aus Südkorea fühlt sich wie bei Harry Potter, überhaupt ist der Ort «absolute fantastic» und «amazing». Ein Maximilian aber muss da etwas falsch verstanden haben, er kritzelt über seinen Beitrag: DR. ALICE WEIDEL.
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Endlich geht es ins Zielgebiet, ins Appenzellerland. Über die Landstrassen zu fahren, ist betörend, als ob man die «Boccaccio»-Ouvertüre von Franz von Suppé hören würde. Versuchen wirs einmal: Über die Landstrasse fahren und die «Boccaccio»-Ouvertüre von Franz von Suppé hören, ja, für solche Kombination fehlen einem die Worte - es ist eine Prozession ins Glück. Mal streichen die Streicher, mal hornen die Hörner. Ein Auf und Ab. Das Gefühl für Raum und Zeit geht verloren, wir schweben durch pure Schönheit. Als es auf der Strasse und in der Ouvertüre zum Finale ansetzt, gibt es kein Halten mehr. Trommelschläge, Weltkulturerbepanorama, Euphorie. Wir sind angekommen. Nächster Halt: Hundwil.
Zu Hundwil gehört auch die Säntisspitze. Weshalb das von Belang ist? Einmal im Jahr geht der Turnverein Hundwil mit seinen Jüngsten auf die Schwägalp, bei Kerzenlicht wird die Geschichte vom Säntismord erzählt. Korrekt wäre: vom Säntisdoppelmord. Man schreibt den 22. Februar 1922, als die Wetterberichte vom Säntis nicht wie üblich übermittelt wurden. Das machte die Leute stutzig, also stiegen sie zum Gipfel hoch und fanden Wetterwart Haas samt Frau Maria Magdalena tot vor. Ermordet. Erschossen. Der Täter soll ein gewisser Gregor Anton Kreuzpointner gewesen sein, der auch Wetterwart sein wollte und sich später in einer Alphütte erhängte.
Darüber muss ich mehr wissen. Die Bäckerin sagt: «Fragen Sie auf der Gemeinde.» Auf der Gemeinde heisst es: «Fragen Sie den einstigen Gemeindepräsidenten Meneth.» Und Meneth? Der ist in den Ferien. Pech aber auch, wir können nicht warten, wir müssen weiter.
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In Appenzell City ist Feierabend. Die Kitschstadt geht trinken. Die Menschen bestellen Bier oder einen Kaffee im Glas, ein vom Aussterben bedrohtes, alkoholfreies Warmgetränk. Ein Vorzug davon: Es wärmt die Hände. Ein zweiter: Alles ist schon drin. Zucker, Rahm, sogar umgerührt wurde schon. Es braucht keine Arbeit, es ist schletzfertig.
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