Muss ich mir das Geduztwerden gefallen lassen?
Die Antwort auf eine Leserfrage zum Thema Du und Sie.

Vor einigen Tagen musste ich meine Horizon-Box auswechseln. Die ganze Anleitung von UPC für die neue Box war in der «du»-Form geschrieben. In einem Teenie-Laden kann ich das Geduztwerden überleben, aber von einer Firma? Ich habe doch mit diesen Leuten noch nie Schweine gehütet. Bin ich mit 72 Jahren hoffnungslos veraltet (neudeutsch out) und muss mich wohl oder übel ans Duzen gewöhnen? R.G.
Liebe Frau G.
Wenn ich den Trend richtig einschätze, werden Sie das vermutlich. Aber durchaus nicht in dem Sinne, dass Sie das auch gut finden müssen und sich nicht immer wieder darüber nerven dürfen. Es gibt traditionelle Bereiche, in denen das Du die Default-Einstellung (eine kleine Hommage an Ihre offenbar gelungene Hardware-Installation) war und ist. Auf dem Bau und auf der Zeche duzt man sich (ausser den Steiger). Desgleichen in der Gewerkschaft und bei den Sozialdemokraten.
In den letzten Jahren sind noch einige Bereiche dazugekommen, in denen die Verhältnisse jedoch nicht so klar sind: In manchen Läden duzen Kunden und Personal sich ganz selbstverständlich, in manchen ist man als älterer Mensch vom Geduztwerden ausgenommen, in manchen Beizen geht es bunt durcheinander. In Schulen und Kindergärten duzen sich die Lehrer und Lehrerinnen meistens, an den Unis ist Duzen zwar auch verbreitet, aber es bedarf einer besonderen Erklärung, wenn man zum Duzen übergehen will.
Dieses Du tut so, als könntest du jederzeit um Hilfe bitten, in Wirklichkeit werden Sie nur per überlasteter Hotline an einen unterbezahlten Mitarbeiter in Polen verbunden.
Das Du-Sie-Feld ist unübersichtlicher geworden, als es auch schon einmal war; aber das muss einen auch nicht besonders stören. Es hat auch seinen eigenen ethnologischen Reiz, diesen neuen ungeschriebenen Regeln, die sich da gerade in der eigenen Kultur entwickeln und verfestigen, auf die Schliche zu kommen.
Nicht nur (produktiv) irritierend hingegen wirkt das Duzen in Fällen wie dem von Ihnen geschilderten. Da ist es nämlich schlicht ein kalkulierter Verstoss gegen durchaus noch gebräuchliche Umgangsformen. Man könnte auch sagen: Es ist ein Ausdruck der Nähe-Lüge, die dergleichen Firmen gern verbreiten. Sie schliessen ihre Läden, optimieren die Zahl und die Anstellungsbedingungen ihrer Mitarbeiter, lagern Callcenter nach irgendwo aus und behaupten gleichzeitig dreist, «immer für dich da» zu sein.
Das ist es meines Erachtens, was einen bei diesem Du auf die Palme treibt: Es tut so, als könntest du jederzeit um Hilfe bitten, in Wirklichkeit werden Sie nur per überlasteter Hotline an einen unterbezahlten Mitarbeiter in Polen verbunden, der auch nicht wirklich zuständig ist – weder für dich noch für Sie.
----------
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet jeden Mittwoch Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch