Gastkommentar zum Ukraine-KriegNaivität in der Flüchtlingsfrage können wir uns nicht leisten
Die Aufnahme von Tausenden von Flüchtlingen aus der Ukraine kann gelingen, wenn ein breiter gesellschaftlicher Konsens besteht. Die Forderung, auch Menschen aus anderen Kriegsgebieten ohne Asylverfahren aufzunehmen, gefährdet diesen Konsens.

Die EU hat innert rund sieben Wochen fast fünf Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Das ist eine gewaltige Leistung. Auch die Schweiz hat mitgezogen und bereits mehr als 30’000 Menschen unbürokratisch Schutz gewährt. Viele Städte und Kommunen gelangen bereits an ihre Grenzen. Dass es bei einer derart grossen Fluchtbewegung auch zu Pannen, einer zeitweiligen Überforderung der Behörden und unschönen Situationen kommt, ist wohl kaum zu vermeiden. Die Knausrigkeit einzelner Kantone wurde dabei zu Recht kritisiert. Doch offenbar sind nun sogar SVP-Hardliner mit einer Erhöhung der finanziellen Beiträge für Flüchtlinge aus der Ukraine einverstanden. Der Konsens, diesen Menschen zu helfen, ist so gross wie kaum je zuvor.
Noch ist kein Ende des furchtbaren Kriegs abzusehen. Wir müssen uns somit auch in den kommenden Wochen und Monaten auf einen grossen Zustrom von Menschen aus der Ukraine einstellen. Umso wichtiger ist es, alles zu tun, damit die Bereitschaft der Schweizer Bevölkerung, den Geflüchteten grosszügig Schutz zu gewähren, so lange wie möglich anhält. Denn mit einem Erlahmen der Hilfsbereitschaft und mit zunehmenden Reibungsflächen und Konflikten ist so oder so zu rechnen.
Wenn Kritiker des Schweizer Asylsystems nun just zu diesem Zeitpunkt erneut dessen «Unmenschlichkeit» und «Grässlichkeit» beklagen, so ist dies politisch höchst unklug und kontraproduktiv. Es widerspricht zudem den Fakten; die Schweiz gehört im Schengen-Raum mit Sicherheit zu den grosszügigeren Staaten.
Gut gemeint, aber vollkommen unrealistisch ist zudem die Forderung, so rasch wie möglich auch Kriegsflüchtlingen aus anderen Staaten – etwa aus Afghanistan oder Syrien – auf dieselbe Weise Schutz zu gewähren. Zwar ist diese Ungleichbehandlung in der Tat stossend. Doch kurzfristig lässt sich dies nicht ändern. Ein solcher Schritt würde Europa vielmehr vollkommen überfordern. Zudem wäre eine enorme Sogwirkung zu erwarten; man denke allein schon an die riesigen Flüchtlingslager im Libanon und in Syrien. Wer behauptet, es sei bloss eine Frage des guten Willens, die Grenzen für alle Kriegsflüchtlinge zu öffnen, liegt deshalb falsch.
In Sachen Migrations- und Asylpolitik kann sich Europa ideologisches Denken und Naivität keinesfalls leisten.
Richtig ist aber, dass Europa nun keinesfalls ausschliesslich auf die Ukraine blicken und die anderen humanitären Krisen und blutigen Kriege – etwa im Jemen oder in Äthiopien – aus den Augen verlieren darf. Dort muss unbedingt humanitäre Nothilfe geleistet werden. Dasselbe gilt für die durch den russischen Angriffskrieg verursachte Versorgungskrise. In manchen Ländern des Südens sind aus diesem Grund schon bald Hungerrevolten zu befürchten. Diese könnten überall dort, wo Armut und Unzufriedenheit eh schon sehr hoch sind, zu einer starken Migration in Richtung Europa führen.
Europa steht somit gleichzeitig vor weiteren gigantischen Herausforderungen. In dieser Situation zählen strategischer Weitblick sowie der feste Wille, die Handlungsfähigkeit nicht zu verlieren. Klar ist: In Sachen Migrations- und Asylpolitik kann sich Europa ideologisches Denken und Naivität keinesfalls leisten. Nur so wird es auch in Zukunft möglich sein, Flüchtenden aus Kriegsgebieten und Menschen, die aus politischen oder anderen Gründen verfolgt werden, Schutz zu gewähren.
* Beat Stauffer ist freischaffender Journalist und Autor des Buchs «Maghreb, Migration und Mittelmeer».
Fehler gefunden?Jetzt melden.