Nass, aber sexy
Das 72. Filmfestival Locarno ist prickelnd. Auch dank dem Wettbewerbsfilm «Douze mille».

Der Leopard, das Wappentier des Festivals, ist in Locarno immer überall, aber in den Strassen hat sich in den letzten Tagen ein anderes Fleckenwesen ausgebreitet: Es ist der schwitzende Festivalbesucher. Einige haben schöne Muster auf ihren Kleidern, andere bleiben nach dem Film auf der schwülwarmen Piazza am Stuhl kleben oder schleichen mit klitschnassem Rücken ab. Der einzige Mensch, der nie zu schwitzen scheint, ist Bundesrat Alain Berset, es liegt vielleicht an seinem Strohhut.
Für den Samstag hatte Quentin Tarantino eine knappe Videobotschaft geschickt, bevor die ausverkaufte Vorführung von «Once Upon A Time … in Hollywood» bei subtropischen Zuständen auf der Piazza begann. Wer sich danach noch an die «Nuit blanche»-Party der SRG in der Magistrale schleppte, verlangte als Erstes nach Wasser. Die Frage war irgendwann, ob man das Hemd noch anbehalten soll, aber in Locarno gab es eine, die uns lehrte: Mit Kleidern geht es auch.
«Douze mille» heisst der Spielfilm der französischen Regisseurin und Drehbuchautorin Nadège Trebal, der früh aus dem internationalen Wettbewerb herausragte. Es fängt an mit einer heissen Sexszene, in der sich weder Frank noch Maroussia wirklich ausziehen. Sie haben drei Kinder und verbringen viel Zeit im Bett miteinander – bis Frank nicht mehr als Schwarzarbeiter auf dem Schrottplatz geduldet wird und sich eine neue Arbeit suchen muss. Maroussia und Frank machen aus, dass er erst wieder zu ihr zurückkehren soll, wenn er 12'000 Euro verdient hat. Das entspricht ihrem eigenen Gehalt und soll reichen, um ein Jahr lang frei zu sein von ökonomischen Zwängen.

Schwer zu sagen, wann zuletzt ein Film so viel Vertracktes erzählte über Leidenschaft und Geld und dabei eine so grosse Leichtigkeit behält. Einen Genuss am Geld kann es für Maroussia nicht geben, für sie liegt gerade darin die Perversion: Vergnügen zu empfinden angesichts eines Lohns, der ja doch nur aus Ausbeutungsverhältnissen resultiert. Als sie Frank besuchen geht, kommt er ihr schmutzig vor, wie er sich freut und mit ihr tänzelt (es wird ohnehin viel getanzt).
Was Maroussia nicht weiss: Frank hat seinen Putzjob gar nie angetreten, sondern als charmanter Trickster einen Deal mit einer Diebinnenbande abgeschlossen, der er den Zutritt zum Frachthafen ermöglicht, was ihm wiederum einen ansehnlichen Profitanteil verschafft.
Die Sexualität bleibt der letzte Lebensbereich, in dem man sich nicht billig verkauft.
Eine ganze Ökonomie von Beziehungen entwirft «Douze mille» und spielt die Frage, wie Lust und Entfremdung zusammenhängen, anhand von so ziemlich allen Themen aus dem Wirtschaftsbund durch, von der Lohndrückerei bis zum Containerkapitalismus. Jede Annäherung ist durchdrungen von wirtschaftlichen Kräften, aber die Sexualität bleibt der letzte Lebensbereich, in dem man sich nicht billig verkauft – das ist die subversive Erotik von Nadège Trebal. Es wäre in jeder Hinsicht logisch, ihr dafür einen angemessen dotierten Preis zu geben.
Durchaus ein Vergnügen ist der erste Wettbewerb unter der künstlerischen Leitung von Lili Hinstin: viel coole Lakonie und wasserdichte Thriller-Spannung, so manche präzise Charakterstudie, die ins Fantastische abdriftet oder etwas Spielerisches bekommt. Man habe sowieso viel Spass zusammen, heisst es aus dem Leitungsteam, was man Hinstins Auftritten auf der Piazza-Bühne insofern anmerkt, als dass sie sich viel Nonchalance erlaubt, woraus zuweilen Verwirrungen entstehen – etwa darüber, in welcher Sprache man sich unterhalten soll.
Nonchalance auf der Piazza Grande
Der schwarze US-Schriftsteller James Baldwin redete in der Retrospektive «Black Light» die Sprache der Unterdrückten: «Baldwin's Nigger» zeigte ihn in einer Diskussionsrunde 1969 in London, in der er äusserst eindringlich das historische Trauma der Afroamerikaner beschrieb, dank deren Entbehrungen ganze Metropolen gebaut worden seien. Es müsse zuerst darum gehen, die eigene Geschichte auszugraben.
Besser hätte er den Wettbewerbsfilm «The Last Black Man in San Francisco» von Joe Talbot jedenfalls nicht zusammenfassen können, in dem sich der junge schwarze Jimmie Fails ein schmuckes viktorianisches Haus mitten in der Stadt wiederaneignet. Sein Grossvater hat es gebaut nach dem Zweiten Weltkrieg, aber wegen der Gentrifizierung wohnte bis vor kurzem ein weisses Intellektuellenpaar dort, das im Biomarkt für drei Dollar pro Stück Peperoni kaufte.
Passt sehr gut zur 72. Locarno-Ausgabe: «The Last Black Man in San Francisco».
Das war einerseits überstilisiertes Hipster-Kino aus der Sundance-Schublade. Aber es war auch ein Film, der sehr gut zur 72. Locarno-Ausgabe passte, weil er zeigt, wie die Ökonomie Lebensweisen formt. Einmal begannen die Häuser sogar selber zu schwitzen – als Sinnbild für die Plackerei der Vertriebenen.
----------
Sie glauben oder zweifeln: David Vogels «Shalom Allah»

David Vogel beginnt seinen Dokfilm, der in Locarno in der «Semaine de la critique» als Weltpremiere lief, mit jener Person, die am weitesten weg von ihm ist: Nicolas Blancho, der fanatisierte Bieler Islam-Konvertit. Man sieht den Verhassten in der «Arena», wie er mit aufdringlich sanfter Stimme seine Position verteidigt gegen Politiker wie den CVP-Präsidenten Gerhard Pfister, der Blancho fragt, ob er sich von Steinigungen und Genitalverstümmelung distanziere. Blancho tut es nicht.
Dann fächert sich der Film auf, David Vogel folgt mehreren Schweizern oder in der Schweiz Aufgewachsenen, die sich zum Islam bekehrt haben mit allen Einschränkungen und Befremdungen, die ein solcher Entscheid mit sich bringen.
Da ist Johan aus Lausanne, der viel trainiert, gerne in einem Kampfanzug herumläuft, mit Drogensüchtigen arbeitet und erklärt, dass die wenigsten Muslime seine Religion als Aufruf zur Gewalt gegen Andersgläubige missverstehen wollen. Johan öffnet sich erst gegen Ende des Films, ohne dass man versteht, was ihn zu dieser Bekehrung getrieben hat.
Das wird nachvollziehbar bei dem Berner Paar Miriam und Franco Lo Manto, die beide vom Christentum zum Islam konvertierten. Die Eltern des Mannes wuchsen in Sizilien auf, die Mutter der Frau kommt auch aus Italien. Sie ziehen drei Kinder auf und sind von ihrem neuen Glauben zweifellos überzeugt. Beide beten inständig, lernen Arabisch und versuchen, den Islam ihren Kindern zu vermitteln.
Hier tun sich die ersten Risse in diesem Film auf, und das macht ihn sehenswert. Je länger man der Mutter zuschaut, desto metallischer klingt ihre Stimme, desto grösser wird die Ungeduld, desto stärker wächst der Druck auf ihre ältere Tochter, keinen Alkohol zu trinken. Entgegen ihren Behauptungen zeigt sie nichts von der Toleranz, die sie für ihre neue Religion in Anspruch nimmt. Die Tochter leidet, die Tochter begehrt auf, die Tochter folgt. Ausgerechnet Nicolas Blancho vollzieht die Bekehrungszeremonie. Die Mutter schaut glücklich aus, die Tochter nicht.
Und da ist schliesslich Aïcha aus dem St. Galler Rheintal, die an der Universität Zürich Informatik studiert und, das zumindest ist der erste Eindruck von ihr: Sie hat sich mit Aussagen und Kopftuch zum Islam bekannt. Im späteren Verlauf des Films vermeldet der Regisseur, dass er schon sehr lange nicht mehr von ihr gehört hat. Wie sich bei seinem Besuch bei ihr bestätigt, hat Aïcha Mühe bekommen mit dem Islam. Der Koran kommt ihre zu vage vor. Das Frauenbild, dem sie sich unterwerfen sollte, findet sie immer mehr abstossend. Dann zieht sie das Kopftuch ab. Diese Religion war nicht ihr Ding.
So wird der Film auf subtile Weise der Ambivalenz seiner Protagonisten gerecht. Der Einzige, der sich gegen ihn wendet, ist der Regisseur selber: Sein Off-Kommentar wirkt mal belehrend, dann wieder auf unnötige Art selbstbezogen. Beides wird seinem Film nicht gerecht, der viel neugieriger bleibt, als sein Regisseur zuweilen klingt.
Jean-Martin Büttner
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch